Der Hamburger Verein „Barrierefrei Leben e.V.“ steht seit 1987 für die Themen Hilfsmittelberatung, Wohnraumanpassung und barrierefreie Bauberatung und hat erst vor Kurzen neue Räumlichkeiten bezogen: Das „Haus für Barrierefreiheit“. Das Haus soll ein „Leuchtturm“ werden und somit einen wichtigen Baustein darstellen, Hamburg zu einer Inklusionsmetropole zu entwickeln. Wir sprachen mit der Geschäftsführerin Heike Clauss über die Aufgaben und Ziele des Vereins.

Wie kann das Thema Barrierefreiheit weiter vorangetrieben werden – in Hamburg und in Deutschland?

Heike Clauss: Wir merken, dass das Thema Barrierefreiheit langsam Fahrt aufnimmt. Es hat sich auch herumgesprochen, dass Barrierefreiheit mehr bedeutet, als das Beseitigen von Treppenstufen. Aber es ist auch noch unheimlich viel zu tun: Wir müssen weiterhin für das Thema werben und die Vorteile barrierefreier Bauten, digitaler Anwendungen, öffentlicher Verkehrsmittel etc. darstellen. Denn Barrierefreiheit ist nicht nur für Menschen mit einer Behinderung wichtig, wir profitieren alle davon. 

Dabei gilt es besonders, Planer und Entwickler für die jeweiligen Anforderungen zu sensibilisieren. Bei Architekten, Ingenieuren, Softwareentwicklern müsste das Thema bereits im Studium fest im Lehrplan verankert werden. Diese Forderung stellt die Selbsthilfe schon seit über 20 Jahren, aber leider hat sich auf diesem Gebiet im Großen und Ganzen nicht viel verändert. 

Wie werden Sie mit dem „Haus der Barrierefreiheit“ dazu beitragen können? 

Heike Clauss: Ich muss kurz ausholen: In das Haus für Barrierefreiheit ist bereits unser Verein Barrierefrei Leben mit dem Beratungszentrum für technische Hilfen und Wohnraumanpassung eingezogen. Mit dem Beratungszentrum unterstützen wir Privathaushalte, wenn es darum geht, das Eigenheim oder die Mietwohnung an die eigenen Erfordernisse anzupassen – da oftmals eben nicht barrierefrei gebaut wurde und wird.

Seit 2019 sind wir gemeinsam mit zwei anderen Vereinen, der Hamburger LAG für behinderte Menschen und dem Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg, Träger des Kompetenzzentrums für ein barrierefreies Hamburg. Das Kompetenzzentrum berät Behörden und andere öffentliche Einrichtungen, Vereine und auch die Privatwirtschaft. Dabei geht es um Barrierefreiheit in den folgenden Bereichen: Verkehrs- und Freiraumplanung, Quartiersentwicklung, Hochbau sowie (digitale) Information und Kommunikation. Mit Ausnahme der Privatwirtschaft sind sämtliche Beratungsangebote kostenfrei. 

Zur Zeit sind wir außerdem dabei, im Haus für Barrierefreiheit eine neue große Ausstellung aufzubauen. Wir zeigen Hilfsmittel, technischen Lösungen und barrierefreie Ausstattungsmöglichkeiten. Hierzu zählen zum Beispiel barrierefreie Bäder und WCs, Lifte, Tür- und Fensterantriebe aber auch Rollstühle, Alltags- und Pflegehilfsmittel. In der Ausstellung können sich sowohl Privatpersonen als auch Architekten und Planer informieren.

Wir sind glücklich, dass mit den Angeboten im Haus für Barrierefreiheit ein umfassendes Beratungsangebot für Hamburg geschaffen wurde: Ausgehend von der engen Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe und den unterschiedlichsten Anforderungen von Menschen mit einer Behinderung bieten wir sowohl Privathaushalten, als auch Planern und dem ausführenden Gewerbe professionelle Unterstützung an. Hierfür sorgt unser interdisziplinär zusammengesetztes Team von Berater*innen.

Mögen Sie uns verraten, wie sich solch ein ambitioniertes Projekt finanzieren lässt?

Heike Clauss: Das Beratungszentrum und das Kompetenzzentrum werden von der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration gefördert. Hierüber sind wir sehr froh, wobei längerfristig zu überlegen ist, ob nicht andere Fachbehörden einen Beitrag leisten sollten, denn Barrierefreiheit ist ein Querschnittsthema. Zusätzlich versuchen wir, über Sponsoren und die Beratung der Privatwirtschaft Gelder zu erwirtschaften.

Was erwartet den Besucher vor Ort? Welche Zielgruppen sprechen Sie an? Welche Beratungsangebote und oder Veranstaltungen bieten Sie an?

Heike Clauss: In der Ausstellung finden die Besucher unterschiedliche Themenräume, z.B. zu Hilfsmitteln in der Pflege und im Alltag, zu Smart Home/technikunterstütztes Wohnen, zur Höhenüberwindung (verschiedene Lifte) oder zur Mobilität. Wir zeigen sechs Bäder und planen gerade eine möglichst barrierefreie und ergonomische Küche. Wichtig ist uns, für jeden Bereich Produktalternativen zu zeigen, die die Ratsuchenden erproben und selbst erfahren können. Neu für uns ist der Bereich technikunterstütztes Wohnen und Smart Home. Hier gibt es immer neue Entwicklungen und Produkte und unser Ziel ist es, auch hier immer aktuell informieren und beraten zu können. 

Zu Coronazeiten können wir leider nur Ratsuchende mit Anmeldung und individuellem Beratungstermin empfangen. Wichtig dabei ist, dass wir aufgrund unserer Förderung grundsätzlich nur Hamburger Bürger und Bürgerinnen beraten dürfen.

Danach sollen aber – ähnlich wie bei einer Fertighausausstellung – Besucher auch einfach vorbeikommen und sich selbst informieren können. In jedem Raum wird hierzu ein Touch-Monitor mit Informationen zu den Exponaten und alternativen Produkten zu finden sein. Ziel ist es, die Hemmschwelle zu senken und auch „jüngere“ Menschen in die Ausstellung zu locken, um sich über zukunftssicheres Wohnen zu informieren.

Neben der Beratung führen wir auch Schulungen durch. Auch hier ist die Spanne breit: Neben Führungen für Pflegeklassen und Schulungen sowie für ambulante Dienste bieten wir z.B. auch Sensibilisierungsveranstaltungen und Seminare für Architekten, Ingenieure oder Handwerker an.

Planen Sie auch eine Zusammenarbeit mit lokalen Anbietern der Altenpflege?

Heike Clauss: Wir haben schon immer zahlreiche Führungen und Schulungen für Pflegeeinrichtungen und -schulen gemacht. Wir zeigen, welche Hilfsmittel es gibt und wie sie eingesetzt werden können. Es gibt auch vertiefenden Seminare z.B. zu Lagerungshilfen oder rückenschonendem Arbeiten. Auch bei dem Thema technikunterstütztem Wohnen sind wir gerade dabei, Kooperationen mit Pflegeanbietern zu schließen

Zum Thema Bauen: Können z. B. auch Architekten mit ihren Plänen kommen, um sie vor Ort überprüfen lassen zu können? Oder ggfs. auch Raumsituationen nachbauen lassen zu können?

Heike Clauss: Die Berater*innen des Kompetenzzentrums schauen sich Baupläne an und führen auch Ortsbegehungen durch. Daraufhin werden Stellungnahmen und Empfehlungen geschrieben. Was ganz wichtig dabei ist: Wir beraten nur, wie planen nicht! Das ist die Aufgabe der beauftragten Architekten.

Auf unserem Webportal www.online-wohn-beratung.de unterstützt ein 3D-Badplaner zudem Privatpersonen und Architekten bei der Planung des Badezimmers.

Soll das „Haus der Barrierefreiheit“ eine Anlaufstelle für ganz Deutschland werden?

Heike Clauss: Wie bereits gesagt, gilt unser individuelles Beratungsangebot nur für Hamburger Bürger*innen und Organisationen. Aber als gemeinnütziger Verein sind wir auf jeden Fall daran interessiert, möglichst viele hilfesuchende Menschen zu unterstützen. Über unsere informativen Webangeboten (auch der Webauftritt des Kompetenzzentrums wird derzeit entwickelt) erreichen wir das gesamte Bundesgebiet. 

Außerdem wollen wir zukünftig durch bundesweite Tagungen, Veranstaltungen und Kooperationen das Thema Barrierefreiheit in Deutschland voranbringen.

Welche Ziele und Visionen verfolgen Sie weiter mit dem Verein?

Heike Clauss: Die Einrichtung des Kompetenzzentrums für ein barrierefreies Hamburg hat uns einen großen Schritt vorangebracht. Es gilt nun, dieses Angebot weiter auszubauen. Denn Ziel ist es letztendlich, eine spezielle Stelle für Barrierefreiheit überflüssig zu machen. Die Fachplaner sollten die notwendigen Kompetenzen besitzen, um Häuser, Straßen und Städte für alle Menschen zu bauen.

Gleichzeitig ändert sich unsere Welt durch die fortschreitende Digitalisierung maßgeblich. Für Barrierefrei Leben e.V. ergibt sich daraus die Frage: Welche Chancen bietet die Digitalisierung, um unseren Zielgruppen „ältere Menschen und Menschen mit Behinderung“ ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu ermöglichen? Im Bereich technische Assistenzsysteme / technikunterstütztes Wohnen gibt es innovative Lösungen und Produkte, über die wir zukünftig informieren möchten. 

Wir starten in Kürze mit einem Projekt, in dem es darum geht, neben der Beratung von Privathaushalten auch Pilotanwendungen mit ambulanten und stationären Pflegeanbietern und der Wohnungswirtschaft durchzuführen. Denn der Bereich technikunterstütztes Wohnen befindet sich aktuell in einer Phase, in der Erfahrungen mit den neuen Technologien gesammelt werden müssen, aber auch Anforderungen an die Technik definiert werden sollten. Häufig sind Entwickler gerade nicht über die speziellen Anforderungen von Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen informiert und nicht alles was technisch machbar ist, wird auch von den Nutzern akzeptiert und benötigt. 

Wir sehen uns hier also auch als Schnittstelle zwischen den Nutzern, der Forschung und der Industrie. Ich bin sicher, dass uns die spannenden und wichtigen Themen in der Zukunft nicht ausgehen werden. 

Vielen Dank für das Interview!

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