Andreas Wagener ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Digitales Marketing an der Hochschule Hof. Seit 2016 agiert er als Vortragsredner auf Konferenzen und Events zu Themen der digitalen Transformation wie KI, Blockchain oder Virtual Reality. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher einschlägiger Bücher (unter anderem „KI im Marketing“, „Die Digitalisierung des Politischen“). Darüber hinaus betreibt er den Blog “nerdwärts.de”, auf welchem er regelmäßig zur Entwicklung der Digitalen Welt schreibt.
Wie hat sich Marketing in den vergangenen Jahren/Jahrzehnten verändert?
Prof. Andreas Wagener: Marketing ist sicherlich immer analytischer geworden. Die Digitalisierung hat für Messbarkeit gesorgt.
Wir können den Einfluss von Werbung und anderen Maßnahmen viel besser erfassen.
„Customer Journey“ oder „Customer Touchpoints“ sind Begrifflichkeiten, die wir erst mit der Möglichkeit der Datenerfassung und -auswertung mit Inhalten ausfüllen können. Das hat die Anforderungen in den Marketingabteilungen grundlegend verändert. KI beflügelt diese Entwicklung weiter.
Und wo und in welcher Form begegnet uns heute KI im Bereich Marketing?
Prof. Andreas Wagener: Eigentlich überall. Im akademischen Marketing erweitern wir den Begriff ja über Werbung und Vertrieb hinaus. Wir sprechen klassischerweise vom „Marketing-Mix“, der eben auch andere Bereiche, wie die Preissetzung oder Produkt- und Innovationspolitik, eines Unternehmens erfasst.
Und insofern lässt sich sagen, dass überall da, wo ansatzweise über Markt- und Kundenorientierung nachgedacht wird, inzwischen KI zum Einsatz kommt.
Das beginnt bei der Ideenfindung und Marktforschung: Nicht nur kann mir KI helfen, große Datenbestände zu durchforsten und Muster zu erkennen, die dem menschlichen Auge womöglich entgangen sind. Ich kann mir inzwischen über generative KIs wie ChatGPT auch Persona-Bots bauen, Chatbots, die ich vorher mit einschlägigen Informationen füttere, um damit einen menschlichen Nutzertypus zu simulieren. Anschließend lasse ich diesen Persona-Bot dann meine neuen Produktideen diskutieren oder bestimmte Workflows ausprobieren. Das ersetzt zwar nicht die quantitative Befragung „echter“ Menschen, aber vereinfacht etablierte Methoden wie das herkömmliche Persona-Marketing erheblich.
In der Preisfindung kennen wir denn Einsatz von KI auch bereits zur Genüge: Im „dynamischen Pricing“ wird automatisiert der vermeintlich beste Preis bestimmt – und zwar abhängig von den individuellen Präferenzen des potenziellen Kunden. Dazu werden Verhaltensdaten der Kontakte ausgewertet und Wahrscheinlichkeiten berechnet, wie relevant ein entsprechendes Angebot für diese ist.
Aber natürlich liegt ein Schwerpunkt von KI im Marketing im Bereich Kommunikation und Vertrieb: Etwa darin, dass man für die Kundenansprache, den Kundenstamm nicht – wie heute leider oft immer noch üblich – nach Umsatz gliedert, also etwa in A-, B-, und C-Kunden. Wobei dann die umsatzstärksten Kunden in die Gruppe A, die schwächsten in die Gruppe C fallen und dann davon ausgehend entsprechende Maßnahmen zur Bindung oder für den Ausbau der Kundenbeziehung definiert werden. Das führt dann oft dazu, dass Kunden, die womöglich bei uns einen C-Status innehaben, aber bei der Konkurrenz vielleicht in die A-Gruppe fallen, von uns immer wie ein C-Kunde behandelt werden. So wird man diese aber nie in eine höhere Gruppe entwickeln.
Der Einsatz von KI erlaubt die Erkennung von Mustern, die dem menschlichen Auge vielleicht entgangen sind.
So könnte es durchaus sein, dass das Verhalten und die Marktsituation eines C-Kunden durchaus dem unserer klassischen A-Kunden entspricht. Die KI kann diese Zusammenhänge aufdecken und dann entsprechende Maßnahmenprogramme einleiten.
In der Kommunikation und Werbung ist die Entwicklung natürlich besonders weit vorangeschritten. Schon lange haben wir im Programmatic Advertising die Möglichkeit, in Echtzeit hyperpersonalisierte Werbung zuzuspielen, das erfolgt über eine automatisierte Auktion, in dem Moment, in dem ein Nutzer auf eine Website zugreift. Aus den Situationsdaten (Surfhistorie, Kaufverhalten, Nutzungsumgebung) wird berechnet, wie relevant eine Werbung in diesem Fall ist. Daran bemisst sich dann auch der Preis. Das alles erfolgt innerhalb von Millisekunden. Mittels generativer KI, wie ChatGPT & Co, lassen sich auch nutzerspezifisch individuelle Inhalte der Werbemittel – Texte, Bilder und Videos – erzeugen und zuspielen. Die KI ist in der Lage, über „Trial & Error“, diesen eigenständig zu optimieren: Sie lernt dazu und hat dabei das entsprechende Werbeziel im Blick – zum Beispiel eine vorgegebene Conversion-Rate oder Klickrate.
Woran erkennt man eigentlich, dass KI im Marketing und für die Kommunikation eingesetzt wurde?
Prof. Andreas Wagener: Wir unterscheiden ja inzwischen zwischen analytischer und generativer KI. Beim Einsatz von analytischer KI, wenn also über die Zuspielung von Kommunikation entschieden wird, ist das meist schwierig. Im besten Fall lässt sie sich durch unser vorangegangenes Nutzungsverhalten im Netz erklären. Auch im Bereich der generativen KI wird es zunehmend schwieriger zu erkennen, ob ein Text oder ein Bild durch ein System oder durch den Menschen erstellt wurde. Allerdings gibt es Werkzeuge, mit denen man zumindest einigermaßen exakt KI-Inhalte identifizieren kann.
Meiner Meinung nach funktioniert das mit Bildern derzeit deutlich besser als mit Text. Aber letztlich gibt es da keine hundertprozentige Gewissheit.
Ich finde allerdings, dass man, wenn man sich intensiver mit KI-erstellten Inhalten erfasst, ganz gut ein Gespür dafür entwickeln kann, was menschlich und was künstlich erzeugt wurde. Ich würde behaupten, dass ich bei meinen Studenten eine ganz gute Erkennungsquote habe. KI orientiert sich immer an Wahrscheinlichkeiten, gerade auch in der Inhalte-Erzeugung. Auch hier werden Muster reproduziert. Das bedeutet ganz konkret, dass KI-generierte Texte immer einer Norm, gewissermaßen einem Durchschnitt entsprechen. Außergewöhnliches, gar „Brillantes“, findet man eher selten und selbst dann nur, wenn die Möglichkeiten des Promptings voll ausgeschöpft werden – was bisher, auch im professionellen Umfeld, eher selten geschieht.
Welche Chancen/Vorteile sehen Sie durch den Einsatz von KI im Marketing?
Prof. Andreas Wagener: Wenn wir KI richtig in unseren Arbeitsalltag integrieren, macht sie uns definitiv effizienter, das gilt insbesondere für das Marketing. Dazu benötigen wir zum einen die Kompetenzen, um richtig mit KI umzugehen. Das lässt sich ohne Zweifel mit zunehmender Nutzung erlernen. Zum anderen benötigen wir aber auch die Kompetenzen, um die KI-Leistungen zu bewerten und gegebenenfalls zu hinterfragen. Dafür braucht man jedoch wieder die klassischen Fähigkeiten, die man an die KI delegiert hat: Ich kann nur beurteilen, ob der Text einer KI gut geschrieben ist, wenn ich selbst gut schreiben kann. Wichtig ist, dass wir KI als Instrument zur Unterstützung begreifen. Im Fahrersitz sollte immer noch der Mensch sitzen.
Wenn das gelingt, werden wir bei der Erledigung unserer Arbeit nicht nur schneller, sondern auch besser.
Dann sind auch höhere Qualitäten – zum Beispiel bei der Verfassung von E-Mails oder der Erzeugung von Werbemitteln zu erwarten.
Hinzukommt, dass die Verknüpfung der Inhalte mit analytischen Werkzeugen der KI gerade im Marketing für einen Leistungsschub sorgt. Dass eine KI in Echtzeit überprüft, ob ein Werbemittel gut ankommt oder nicht und dann eigenständig entsprechende Verbesserungen des Kommunikationsprozesses übernimmt, ist schon eine beeindruckende Entwicklung, die Marketingmaßnahmen massiv verbessern wird.
Und wo liegen die ausgewiesenen Nachteile/Risiken?
Prof. Andreas Wagener:
Wenn es uns in der Masse nicht gelingt, mit KI sinnvoll umzugehen, wie zuvor erwähnt, droht tatsächlich so etwas wie eine kollektive Verdummung.
Man spricht hier oft von „De-Skilling“. Damit ist gemeint, dass man Aufgaben an die KI delegiert und durch die kritiklose Übernahme der Ergebnisse menschliche Kompetenzen abgebaut werden. Beispielsweise lassen selbst große Medienhäuser inzwischen Texte einfach automatisiert aus dem Englischen übersetzen und publizieren diese dann offenbar weitgehend ungeprüft auf Deutsch. Das Ergebnis ist eigentlich nur als grottig schlecht zu beschreiben. Das wird sich meiner Meinung nach auch nicht einfach so, durch weiteren technischen Fortschritt, von allein lösen.
Wir brauchen den „Human in the Loop“, um weiterhin Qualität sicherzustellen.
Daneben sind natürlich auch einige rechtliche Fragen offen: Wie steht es mit den Urheberrechten aus den Quellen, die für das Training der zugrunde liegenden Sprachmodelle verwendet worden sind? Auch sollte man die KI nicht mit sensiblen Informationen füttern. Wer weiß schon genau, wo und wie diese dann weiterverarbeitet werden.
Und schließlich sollten wir nicht die potenzielle Markt- und Gestaltungsmacht der KI-Plattformen unterschätzen. Indem wir intensiv ChatGPT nutzen, stärken wir hiermit einen Marktteilnehmer über die Maßen in einem Markt, der unzweifelhaft eine große gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung besitzt, dessen Entwicklung aber im Moment kaum vorhergesagt werden kann.
Ordnungspolitische Fehler wie bei den Social-Media-Plattformen oder den Suchmaschinen sollten wir nicht wiederholen.
Halten Sie den Einsatz von KI auch für Marketing im Gesundheitswesen und hier speziell in der Pflege für sinnvoll?
Prof. Andreas Wagener: Ich glaube, es gibt keinen Bereich und keine Branche in dem es keine sinnvollen Anwendungsfelder für KI gibt. Und auch wenn das Gesundheitswesen und die Pflege sehr spezifische Umfelder sind, mit oft sehr eigenen Bedingungen, lassen sich auch hier die Instrumente des KI-Marketings einsetzen – und zwar sowohl im B2C- wie auch im B2B-Bereich. Auch wenn es um soziale Leistungen geht, letztlich müssen diese an den Mann (oder die Frau) gebracht werden.
Es geht schließlich auch hier um bedürfnisorientierte Angebote.
Mit welchen Chancen und Risiken ist dabei im Bereich Pflege zu rechnen?
Prof. Andreas Wagener: Die bereits erwähnte Effizienz in der Ansprache lässt sich sicherlich auch hier bewerkstelligen, gerade im Bereich der Beratung ließe sich viel automatisieren. Natürlich lebt der Pflegebereich von Empathie und dem Kontakt mit „echten“ Menschen. Aber jeder, der sich schon Mal für sich oder einen Angehörigen mit der Thematik befasst hat, weiß um die Menge an Informationen, die für uns Laien nur schwer zu durchdringen ist. Da könnten intelligente Angebotsstrukturen, die wirklich eine Hilfestellung geben und nicht nur Pseudokommunikation umfassen, sehr viel bewirken. Das würde dann auch den Beratungs- und Arbeitsaufwand in den Pflegeinstitutionen massiv reduzieren.
Allein schon eine übergreifende, automatisierte und transparente Lösung für das Wartelistenmanagement in Pflegeheimen würde, glaube ich, bei allen Beteiligten für Entspannung sorgen.
Auch hier gilt dennoch, und sicherlich deutlich mehr als in anderen Umfeldern, eine menschliche Kommunikation ist durch nichts komplett zu ersetzen. Ich denke, man sollte aber auch hinterfragen, wo diese wirklich immer und überall notwendig ist und wo vielleicht Chancen für mehr Automatisierung bestehen. Das kann auch auf der „Kundenseite“ für bessere Erfahrungen sorgen. Aber natürlich ist hier Augenmaß gefragt.
Wie und wo könnte KI im Pflegemarketing konkret genutzt werden (zum Beispiel Personalgewinnung, Markenbildung, Arbeitgebermarke, …)? Und welche Kommunikationswege gibt es – online/offline?
Prof. Andreas Wagener: Auch hier gilt: in allen Bereichen. Jenseits der Angebotskommunikation spielt sicherlich die Gewinnung von Personal im Pflege- und Gesundheitsbereich eine große Rolle. Nicht zuletzt aus der Begleitung von entsprechenden Praxisprojekten weiß ich, wie schwer hier die gezielte und richtige Ansprache ist, insbesondere wenn es um den Nachwuchs geht. Da sind die Streuverluste bei der Bewerbung von Stellen schon sehr hoch. Kampagnensteuerung über KI, mittels zielgenauer Ausspielung von entsprechenden Kommunikationsmitteln, nicht zuletzt auch über die klassischen Plattformen, Social Media und auch Google, kann hier schon für Erleichterung sorgen.
Aber letztlich ist auch hier das jeweilige Angebot sowie die Reputation als Arbeitgeber entscheidend, also die typischen, nachgelagerten Tugenden des „Employer Brandings“.
Allein durch die Professionalität in der Kommunikation lässt sich niemand überzeugen, es bedarf schon entsprechender Leistungen – aber auch die müssen eben kommuniziert werden.
Ein typischer Fehler in der Kommunikation heute ist, dass man glaubt zu wissen, wo sich die Zielgruppe aufhält und kommuniziert. Die Gesellschaft ist heute aber sehr fragmentiert, sehr kleinteilig. Ich kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass der potenzielle Azubi auf Instagram unterwegs ist und man die neue Pflegeleitung auf Facebook oder LinkedIn findet. Für die verschiedenen Nachfragerprofile gilt das Gleiche.
Kommunikation im digitalen Zeitalter ist viel individueller. Es gibt hier leider keine einfachen Antworten. Aber KI kann mir dabei helfen, abgestimmt auf die einzelnen Adressaten zu kommunizieren. Gar nicht so wichtig ist dabei, wo Informationen zu mir und meinen Leistungen zu finden sind, sondern, „dass“ sie zu finden sind.
Trotz DSGVO und Datenschutz halte ich es für nicht unwahrscheinlich, dass Kommunikation zunehmend weniger von den Umfeldern, sondern eher von den Nutzungsprofilen abhängen wird: Warum soll ich in einem hochwertigen – und damit teuren – Umfeld kommunizieren, wenn ich dieselbe Person, von der ich ziemlich sicher sagen kann, dass sie interessiert, was ich ihr mitteilen möchte, auch in einem günstigeren Umfeld – zum Beispiel auf einer Wetter-Website – erreiche? Für diese Prozesse ist KI prädestiniert.
Nicht unterschätzen sollte man auch, dass viele ChatGPT & Co zunehmend als Suchmaschine nutzen. Das bedeutet, dass ich meine Leistungskommunikation so aufbauen muss, dass die Inhalte auch entsprechend von den Systemen verarbeitet und ausgegeben werden können – wir sprechen da inzwischen in Anlehnung an SEO von „GAIO“ – von „GenAI-Optimierung“. Da stehen wir allerdings noch ganz am Anfang. Wie überall, wo KI zum Einsatz kommt, befinden wir uns dabei in einem stetigen Lernprozess.
Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.