Dr. Boris Nikolai Konrad studierte Physik und Angewandte Informatik. 2014 promovierter er am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München über die neuronalen Grundlagen außergewöhnlicher Gedächtnisleistungen und ist seitdem am Donders Institute for Brain, Cognition, and Behaviour in Nimwegen (Niederlande) forschend tätig. Er ist seit Jahren als Keynote Speaker in Deutschland und international unterwegs und zeigt seinen Zuhörern mit fesselnden innovativen Vorträgen, wie sie ihr Gedächtnis nachhaltig trainieren können, oder wie künstliche Intelligenz und Technik unser Denken verändern. Er ist Certified Speaking Professional (CSP) und Gewinner des 5-Sterne-Rednerpreises (www.boriskonrad.de/).
Was sind die größten gesellschaftlichen Veränderungen, die wir durch künstliche Intelligenz spüren?
Dr. Boris N. Konrad: Also, was wir gerade erleben, ist so etwas wie eine zweite Dampfmaschine oder das Internet des 21. Jahrhunderts. KI-Tools stecken schon heute in unseren Handys, in unseren Autos, in Anwendungen hinter der Benutzeroberfläche – überall. Dadurch verschieben sich Rollen und Verantwortlichkeiten: Routinetätigkeiten werden automatisiert, und wir Menschen bekommen Freiraum für die wirklich spannenden Dinge.
Wir werden weniger Ausführende und mehr Gestalter unserer eigenen Ideen und Projekte.
Gleichzeitig verändert sich, wie wir uns selbst wahrnehmen. Fragen wie „Was macht mich als Experte wertvoll?“ kommen auf. Das ist per se nicht neu, früher dachten sich viele in der Buchhaltung: „Bin ich ohne meinen Taschenrechner immer noch kompetent?“, und natürlich war die Antwort, ja vielleicht sogar umso mehr. Ich beobachte, dass auch dank KI viele lernen müssen, ihre persönlichen Stärken – Empathie, kritische Urteilskraft, Kreativität – selbstbewusster zu vertreten, neu auszurichten und bewusst einzusetzen.
Gesellschaftlich bedeutet das: Wir rücken näher zusammen, um gemeinsam zu entscheiden, was wir der KI überlassen und wo wir selbst aktiv bleiben.
Daher ist für mich, da hat mein Blick aus Neurowissenschaftler aber auch eine bestimmte Perspektive, die größte Veränderung nicht das, was KI vielleicht bald noch alles kann, sondern, dass wir gesellschaftlich eine Veränderung der Wahrnehmung der relevanten Kompetenzen beim Menschen erleben.
Künstliche Intelligenz hat bereits Einzug in viele Teile unseres Alltagslebens gefunden. Überall begegnen uns Apps, Tools, neue Technologien, die unser Leben, unsere Abläufe, unsere Entscheidungen vermeintlich einfacher machen sollen. Werden wir dadurch denk- und lernfauler, ja, sogar dümmer, unkreativer und verlernen grundlegende Techniken?
Dr. Boris N. Konrad: Kurz und knapp:
KI kann uns faul machen – oder schlauer. Es liegt an uns, wie wir sie nutzen!
Wenn wir sie blind nutzen, also unser Denken auslagern, kann es uns tatsächlich dümmer machen. Wenn das Gehirn nicht gefordert wird, verliert es an Leistung. Das ist schon seit Jahren nachweisbar: Der Taschenrechner kostet uns Kopfrechenfähigkeiten, das Navi reduziert unsere Kompetenz mit Karten zu navigieren. Bei diesen Beispielen finden wir das okay. Aber wenn wir nun Denkprozesse auslagern, die uns ausmachen, die zentral für unsere Fähigkeiten sind, dann gilt natürlich: Die wollen wir nicht nur behalten, sondern am liebsten steigern!
Das führt zu Unsicherheit und innerer Unruhe: „Kann ich das noch selbst? Will ich das noch selbst können?“ Oft ist die Antwort darauf vorher nicht so klar.
Aber hier kommt die gute Nachricht: Wir entscheiden, was wir auslagern und was wir bewusst trainieren. Wenn wir KI statt als Black-Box als Co-Pilot verwenden, also für die Routinen, dann bleibt genügend Raum für das, was unser Gehirn wirklich stark macht: Erfinden, Verknüpfen, kritisches Hinterfragen.
Dann wird KI nicht zum geistigen Verblödungsfaktor, sondern zum Sparringspartner für unsere Kreativität.
Wie beeinflusst KI unsere Denk- und Lernstrukturen ganz konkret? Funktioniert unser Gehirn heute anders als zu rein analogen Zeiten?
Dr. Boris N. Konrad: Physiologisch hat sich in unserem Kopf nichts grundlegend verändert – wir sind immer noch diese fantastischen Netzwerke aus Zellen und Synapsen. Aber unsere Umwelt hat sich radikal gewandelt: Wir werden von Informationen bombardiert, News-Feeds updaten sich rund um die Uhr, und wir klicken, anstatt zu lesen. Unsere zentrale Exekutive, die für Aufmerksamkeit und Entscheidung zuständig ist, wird permanent unterbrochen.
Das führt dazu, dass unser Gehirn zu oft zwischen Aufgaben wechselt, wir zu wenig in die Tiefe gehen – wir Denken zu oft nur noch oberflächlich.
Gleichzeitig müssen wir heute mehr selektieren: Welche Information muss ich mir merken, wo darf ich auf den Rechner vertrauen? Wann schalte ich bewusst in den Ruhemodus und sorge für ununterbrochene Arbeitszeit?
Früher machte man Notizen und vertiefte dadurch automatisch. Heute reicht ein Fingerwisch, Copy & Paste, und das Wissen ist digital kopiert und gespeichert. Aber der Mensch hat nicht mehr die Zeit zu verarbeiten. Umso wichtiger ist es, sowohl mit Technologie als auch mit Denktechniken zu arbeiten und tatsächlich relevante Informationen mit Bildern im Kopf zu verbinden und aktiv zu wiederholen, damit aus der schnellen Info ein stabiles Abbild im Gedächtnis wird.
Wie kann/sollte KI Ihrer Meinung nach optimalerweise bei Lernprozessen eingesetzt werden? Wie kann eine Balance zwischen technologischem Fortschritt und menschlicher Selbstständigkeit und Kreativität gefunden werden?
Dr. Boris N. Konrad: Die KI kann der persönliche, individuelle Tutor oder Mentor sein, den sich viele wünschen. Auch Lehrkräfte und Dozenten hätten ja gerne die Zeit und Möglichkeiten auf alle einzeln einzugehen, unterrichten aber viele gleichzeitig. Die KI kann sich für den Lernenden anpassen. Dafür ist wichtig, KI nicht als Tool zu sehen, Inhalte nochmal anders erklären zu lassen. Stattdessen sollte man sich lieber von der KI-Fragen stellen lassen, sich begleiten lassen. „Liebe KI, ich lerne Thema XY – Stelle mir doch mal 10 Fragen von leicht bis sehr fortgeschritten, um zu schauen, wo ich stehe und wo ich noch Lücken habe!“ – das ist etwa ein toller Prompt.
Außerdem heißt für mich von KI lernen auch, eine KI, die ganz andere Funktionen hat, zu beobachten. Warum schlägt hier die KI eine andere Medikation vor, als ich dachte? Erstmal wichtig, dass der Mensch die Entscheidungsgewalt hat und Fehler verhindert. Aber auch wichtig, dass der Mensch dann darüber nachdenkt: War das jetzt ein Fehler? Oder hat die KI da etwas erkannt, was ich nicht erkannt habe?
Dabei sollte man das Erkennen der KI aber nicht mit Erkenntnis verwechseln. Heutige KI-Modelle verstehen nichts, sie haben nur sehr viele Daten gelernt und können daher oft auch gute Inhalte produzieren und Vorschläge machen.
Der Mensch aber, kann davon lernen und selbst innovativ und verbessernd damit umgehen!
Welches Potenzial/Chancen sehen Sie in Bezug auf den Einsatz von KI in Pflegeheimen – seitens der Bewohnerinnen und Bewohner?
Dr. Boris N. Konrad: Überraschenderweise ist eine der Chancen gar nicht so anders zur Frage davor, als es ums Lernen ging: Für die Bewohnerinnen und Bewohner öffnet sich eine ganz neue Welt der Selbstbestimmung und Individualisierung: KI-Spiele aktivieren das Gedächtnis und die Aufmerksamkeit individuell und motivierend, statt wie bisher für viele verschiedene Benutzer funktionieren zu müssen. KI-Chatbots können ein Gespräch führen und dabei mit Wortwahl und Hintergrundwissen mehr auf dich eingehen als ein Mensch, der viele Bewohnerinnen und Bewohner gleichzeitig betreut. Stell dir vor, du unternimmst virtuell eine Reise an deinen Lieblingsort oder lässt dich von einer KI an Schlüsselmomente deiner Biografie erinnern – all das regt Emotionen und die kognitive Reserve an, hält das Gehirn flexibel und reduziert Einsamkeit. Dabei darf es aber nicht so sein, dass die KI die Gespräche und Kontakte mit Menschen ersetzt. Aber sie darf es unterstützen, vor allem in den Zeiten, wo eben gerade keine individuelle Betreuung möglich ist.
Außerdem stärkt es das Selbstwertgefühl, wenn man erlebt: „Ich kann noch lernen, ich bin handlungsfähig.“ Das gilt nicht nur für KI, sondern für alles Neue.
Für Menschen, die sonst erleben, dass das, was früher leichtgefallen ist, heute schwieriger wird, eröffnet dies große neue Freiräume für geistige Aktivierung und Freude. Darum sollten sowohl Angehörige und Pflegende auch nicht zu viel abnehmen: Erstmal selber denken lassen, dann Hilfe anbieten.
Und seitens des Pflegepersonals?
Dr. Boris N. Konrad: Pflegekräfte sind wahre Allround-Talente, aber oft zeitlich so eingebunden, dass für persönliche Zuwendung kaum Luft bleibt. Hier kann KI entlasten: Automatische Dokumentation, Sturz- und Vitaldaten-Monitoring sowie intelligente Assistenzsysteme geben wertvolle Minuten zurück.
Hervorheben: Diese Minuten können Pflegende in echte Begegnungen, in Zuhören und in Trost investieren – genau das, was Pflege lebendig macht und genau das, was KI auch längerfristig nicht wirklich können wird:
Emotionen, die kann KI erkennen, aber sie kann sie nicht haben, wie auch Empathie und Menschlichkeit.
Zugleich kann KI-Fortbildungen und Lernmöglichkeiten bieten: Kurze, adaptive Lerneinheiten mit Simulation von Pflegesituationen, die genau auf die eine Person optimiert sind, um ihre Fähigkeiten aktuell zu halten und weiterzuentwickeln. So wird die Qualität der Pflege insgesamt spürbar besser – für Pflegende und für die, die gepflegt werden.
Ich gebe zu, dass ist nur eine Option. Aber das Potenzial dafür ist da. Wenn ich auf Tagungen, sei es im Bereich Gesundheit und Pflege, Vorträge halte, ist das immer meine wichtigste Botschaft, gerade auch an das Management:
Dafür müssen wir KI sehen, als etwas von dem wir lernen können, mit dem wir uns entwickeln können. Aber nicht als etwas, an das wir unser Denken und Tun auslagern. Die erste Frage sollte nicht Effizienzsteigerung sein – „Kann eine Person so Zeit sparen, dass sie noch mehr Bewohner betreut?“ – sondern der Mensch: „Wie kann es die heute Pflegenden unterstützen, entlasten und ihnen helfen sich zu entwickeln?“ Ich freue mich immer, wenn ich zu Veranstaltungen eingeladen werde und hoffe, dass die Botschaft verfängt. Denn als Neurowissenschaftler und Gedächtnisweltmeister ist das schon immer meine Überzeugung: Jeder hat ein Superhirn, aber wir müssen es auch benutzen!
Wir danken Ihnen für die Beantwortung unserer Fragen.
Foto: © Kay Blaschke