Prof. Dr. Hans-Werner Wahl ist Psychologe, Seniorprofessor und Projektleiter am Netzwerk Alternsforschung der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Altern und der digitalen Umwelt, Adaptationsprozesse im späten Leben, die Rolle subjektiven Alternserlebens sowie die Psychologie der Hochaltrigkeit. Seine Beiträge sind mehrfach ausgezeichnet worden, so 2009 mit dem M. Powell Lawton Award der Amerikanischen Gerontologischen Gesellschaft, bei der er auch Fellow-Status besitzt. 2019 erhielt er den Advanced Scholar Award: Socio-behavioral Sciences der International Association of Gerontology and Geriatrics, European Region. Sein 2017 erschienenes Buch „Die neue Psychologie des Alterns: Überraschende Erkenntnisse über unsere längste Lebensphase“ ist ein Bestseller geworden. Er ist derzeit President Elect der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie.

Altern wir heute eigentlich anders als früher – psychisch und physisch?

Prof. Wahl: Das hängt natürlich davon ab, was man unter ‚früher‘ versteht. Was ich sehr spannend finde: Selbst wenn man unter ‚früher‘ nur das Älterwerden von vor 20 oder 30 Jahren versteht, dann altern wir heute in der Tat deutlich anders: Sogenannte Kohortenstudien, die hinsichtlich Alter vergleichbare Ältere vor zwei oder drei Jahrzehnten mit aktuell alternden Menschen verglichen haben, kommen insgesamt zu den folgenden Schlussfolgerungen: Ältere über 65 Jahre sind heute kognitiv leistungsfähiger, körperlich fitter, sie fühlen sich jünger und sind es auch biologisch gesehen, sie fühlen sich eher weniger einsam, und sie sehen mehr Chancen und Potenziale in der späten Lebensphase.

Man könnte sagen, da hat sich vor allem mit dem ‚jungen Alter‘ zwischen 65 und 80 Jahren gewissermaßen eine Periode mit neuen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten aufgetan, die es so historisch noch nie gegeben hat.

Allerdings darf nicht vergessen werden, dass sich heute der Anteil derjenigen, die auch das achte und neunte Lebensjahrzehnt erreichen, gegenüber den 1990er-Jahren etwa verdreifacht hat und aktuell bei circa neun Prozent der Gesamtbevölkerung liegt. Viele, auch ich, sagen, Altern ist in der Moderne deutlich janusköpfiger geworden: Vielfältige neue Chancen bis hin zu einer neuen Produktivität (Großelternschaft, Freiwilligenengagement, familiäre Pflege) stehen neben einer relativ langen Periode hoher Verletzlichkeit vor allem jenseits von 80 bis 85 Jahren. Ich bin sicher, dass hochwertige Pflegeangebote ein superrelevanter Schlüssel dazu sind, unsere zunehmend hochaltrige, aber auch in dieser Lebensphase immer diverser werdende Gesellschaft zukunftsweisend zu gestalten.

Wie hat sich die Wahrnehmung des Alterns und der Umgang mit dem Alter in unserer Gesellschaft verändert?

Prof. Wahl: Über diese wichtige Frage grübele ich, wenn ich das sagen darf, die letzten 20 Jahre immer wieder nach, ohne zu eindeutigen Schlüssen zu kommen. Sicher, es gibt heute relativ gute Daten, vor allem allerdings zu individuellen Wahrnehmungen des eigenen Alterns, weniger zu gesellschaftlichen Trends über diese Zeit hinweg. Zum Beispiel hat eine Studie in den USA anhand eines über 400 Millionen Wörter umfassenden Korpus, der die Zeit zwischen 1810 bis 2010 abdeckte, gezeigt, dass in einer Vielzahl von Medien, Texten und Verlautbarungen negative Altersstereotype über diesen zwei Jahrhunderte laufenden Zeitraum linear zunahmen. Diese Zeitreihendaten wurden 2015 zum ersten Mal publiziert, und ich hätte damals gewettet, dass es genau umgekehrt ausgegangen wäre: Lineare Zunahme positiver Altersbilder, weil sich doch, wie oben beschrieben, die Alternsphase in vielfacher Hinsicht positiv verändert hat. Heute glaube ich, dass wir vor einer paradoxen gesellschaftlichen Situation stehen:

Individuell hat Altern sein positives Potenzial recht robust gefestigt, aber gesellschaftlich scheint unsere auf messbare Leistung und monetäre Profite fixierte Gesellschaft Altern eher als Kostenfaktor und Risiko des rohstoffarmen Industriestandorts Deutschland zu sehen.

Das bleibt natürlich nicht folgenlos. Ich gehe allerdings davon aus, dass es eine starke Graswurzelbewegung durch Seniorenorganisation und Ältere selbst geben wird, die dieser einseitigen Sichtweise eines nicht mehr produktiven Alterns entgegentritt. Spätestens wenn Altersablehnung geschäftsschädigend wird, dürfte sich die Wahrnehmung des Alterns auch gesellschaftlich zum Positiven drehen.

Und wie findet Altern heutzutage speziell in den Medien (TV, Social Media, Print) statt (mit der Zielgruppe der Silver Ager etc.)?

Prof. Wahl: Hier setzt sich die eben beschriebene Paradoxie fort: Ältere werden natürlich, und dies geschah in der Vergangenheit mehrfach, oft deutlich früher als wir als Gerontologeninnen und Gerontologen dies wahrnahmen, als neues und einkommensstarkes Marktsegment gesehen. Ohne die Älteren als Kundinnen und Kunden müssten zum Beispiel viele Regionalzeitungen und Regionalprogramme eingestellt werden. Ohne die Kaufkraft der Älteren würde die Autoindustrie, Reiseveranstalter oder E-Bike-Anbieter, ich sage das mit einem Schuss Ironie, ‚alt‘ aussehen. Gleichzeitig scheint zum Beispiel die Autoindustrie bis heute eine Assoziation mit ‚alt‘ wie der Teufel das Weihwasser zu fürchten.

Da läuft etwas mit der Wahrnehmung der größten Gruppe in unserer Gesellschaft, es sind 40 Millionen über 50-Jährige, völlig schief. 

Was halten Sie generell von der Bezeichnung/Gruppierung „Silver Ager“ oder auch die „neuen Alten“?

Prof. Wahl: Nicht gut ist definitiv, dass dies über die Köpfe von Älteren hinweg gemacht wird. Kein älterer Mensch würde sich ernsthaft selbst als Silver Ager bezeichnen oder nur mit einem großen ironischen Abstand. Ich glaube, die Suche nach derartigen Begrifflichkeiten ist langfristig zum Scheitern verurteilt beziehungsweise wird sich selbst ad absurdum führen.

Wir brauchen eine Normalisierung des gesellschaftlichen Blicks auf die späte Lebensphase.

Sie kommt heute, wie ich in meinem neuesten Buch „Positive Alternspsychologie. Die Stärken der zweiten Lebenshälfte“ ausführe, mit vielen Stärken, die für unser Gemeinwesen generell hilfreich sind: Dankbarkeit, Lebenswissen, Engagement, Empathie, Friedensbereitschaft und Gewaltlosigkeit, Verträglichkeit, Deeskalation, Sorge für nachfolgende Generationen. Aber natürlich auch mit bedeutsamen Herausforderungen, die mit viel monetärem Einsatz einhergehen. Aber was ist daran nicht Ok? Es gehörte immer schon zu gut funktionierenden Gesellschaften, dass sie ihre erwirtschafteten Ressourcen in den Aufbau ihres Humankapitals steckten: Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter. Es gehörte immer schon zu gut funktionierenden Gesellschaften, dass sie ihre erwirtschafteten Ressourcen in den Erhalt ihres Humankapitals im mittleren Alter steckten. All dies hat eine Gesellschaft des langen Lebens überhaupt erst ermöglicht. So gehört es heute auch zu gut funktionierenden Gesellschaften, dass sie ihre erwirtschafteten Ressourcen in den möglichst langen Erhalt von Humankapital und in einen würdevollen Abschied aus dem Leben stecken.

Was sind heutzutage die größten Herausforderungen des Alter(n)s?

Prof. Wahl: Ich glaube, es muss möglichst bald zu einer, ich nenne es mal, Synchronisierung von positiven Sichtweisen des individuellen und gesellschaftlichen Alterns kommen. Ich glaube, das wird unsere Gesellschaft, nicht zuletzt auch unsere älter werdende Arbeitsgesellschaft, sehr befruchten und neue Potenziale und Produktivität freisetzen. Zweitens muss unsere politische Elite und auch wir als Wählerinnen und Wähler noch besser verstehen, dass der demografische Wandel, es geht immer um Menschen, nicht um Öl- oder Gasreserven, nicht primär als monetäre Katastrophe und Risiko für unsere rohstoffarme Industrieproduktivität gesehen werden darf. Es geht um die Gestaltung einer neuen Lebensphase in unserer Gesellschaft, wenn man so will, um eine neue Gesellschaft – nicht mehr und nicht weniger. Ein Zurück zur demografischen ‚Normalität‘ Ende des 19. Jahrhunderts wird es nicht geben. Drittens bin ich der festen Meinung, dass wir es uns nicht länger erlauben können, das Element der primären und sekundären Prävention weiter so schleifen zu lassen, wie wir es gegenwärtig tun. Etwa 40 Prozent der Demenzentstehungsvariation geht auf beeinflussbare Faktoren zurück, eine bessere Kindergrundsicherung gehört zu den effektivsten Kostenvermeidungsstrategien, wenn es um das späte Leben geht, die Ausnutzung der bereits heute verfügbaren nicht-pharmakologischen Interventionen wie Sturzpräventionstraining, Aktivitätserhöhung, kognitives Training, behaviorales Krankheitsmanagement, Wohnanpassung und digitale Tool-Nutzung geschieht viel zu zufallsgesteuert und kommunen- oder landkreisabhängig.

Wenn wir diesen heute mit überwiegend akzeptabler Evidenz versehenen Schatz endlich auf breiter Basis finanziell absichern, so wird das sehr wahrscheinlich die Gesundheitskosten der späten Lebensphase signifikant billiger machen.

Warum wird dieses ureigene, wenn nicht existenzielle Interesse von Krankenkassen immer noch so vernachlässigt? Welche ‚Mächte‘ sind hier am Werk? Arbeiten wir dagegen an.

Kann man Lebenszufriedenheit lernen?

Prof. Wahl: Das geht nur in gewissen Grenzen, denn Lebenszufriedenheit ist in starkem Maße durch unsere Persönlichkeit bestimmt – und diese ist wiederum bedeutsam genetisch getrieben.

Aber Kontexte sind natürlich in jeder Beziehung so zu gestalten, dass sie individuell mögliche Lebenszufriedenheit optimal fördern.

Das Ernstnehmen von älteren Menschen in Kommunen oder in der Arbeitswelt, die aktive Suche nach bestmöglichen Pflegeökologiegestaltungen einschließlich Akutkrankenhaus und ambulanten Settings, niederschwellige Interventionsangebote einschließlich der natürlich auch noch im hohen Alter möglichen Kostenübernahme von Psychotherapie, dies alles stützt Lebenszufriedenheit bis ins hohe Alter nachhaltig. Wichtig zu wissen ist, dass sich Lebenszufriedenheit auch bei älteren Menschen in Deutschland im Mittel auf einem hohen Niveau positiv darstellt. Auf einer Skala von 0 bis 10 („sehr hoch“) liegen die meisten Antworten im Bereich von 6 Punkten und höher. Aber klar: Jene mit geringer Lebenszufriedenheit sind signifikante Minderheiten, die oftmals auch ökonomisch schlecht dastehen, sich als einsam und wenig sozial integriert beschreiben. Auch wenn sich derartige Faktoren oftmals über das ganze Leben aufgebaut haben, so ist dies natürlich kein Grund für eine professionell hochwertige und kreative ‚Altenarbeit‘ (ich mag diese Bezeichnung eigentlich nicht; sie muss mittelfristig aus unserem professionellen Vokabular und aus der Sozialgesetzgebung verschwinden), nichts zu tun. Wenn es gelingt, dass eine bildungsbezogen „einfache“ ältere Frau im Heim das Werk von Theodor Fontane für sich erschließt oder ihre Englischkenntnisse erweitert und mit Freude in ihrem nächsten Urlaub anwendet, dann ist das doch pures Glück für professionell Handelnde.

Wie und wo möchten Sie selbst alt werden?

Prof. Wahl: Ach ja, gute Frage. Ich weiß, dass ich privilegiert bin. Ich weiß, dass ich nicht alles, was ich in meinen Büchern schreibe, selbst beherzige. Ich weiß, dass ich gute Weine und gutes Essen einschränken sollte. Familie, meine Frau, Kinder, Enkelkinder – ohne sie könnte ich einpacken. Das ist mein Lebenssinn – auch das, was ich leben durfte.

Es ist eigentlich bereits genug. Aber ich bin keineswegs lebenssatt.

Ein mäßiger, nicht übertriebener Hunger auf neue Erfahrungen, vor allem in den Bereichen Literatur, Kunst, Musik und Naturerleben und ein Fortschreiben meines wissenschaftlichen Arbeitens. Das sind die aktuellen Prioritäten. Sie mögen sich ändern, schon bald oder später. Wer weiß es? Gute Orte für das späte Leben gibt es viele. Da sind wir noch auf der Suche. Ernsthaft und bisweilen auch lachend zu uns sagend „reicht für heute“. 

Besten Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

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