Nina Marggraf (Dipl.-Ing. (FH)) ist Innenarchitektin und Expertin für Wohn- und Architekturpsychologie AAP/IWAP bei der Nina und Nils Marggraf Architektur Partnerschaftsgesellschaft mbB (www.marggraf-architektur.de). Wir sprachen mit ihr über aktuelle Aspekte der Pflegeheimarchitektur. 

Wie hat sich die Architektur in Bezug auf die Auswirkungen durch den demografischen Wandel in den vergangenen Jahren verändert?

Nina Marggraf: Sicher wächst, im Rahmen der alternden Gesellschaft das Bewusstsein für die Bedürfnisse älterer oder auch kognitiv eingeschränkter Menschen und auch für die Wirkung der gebauten Umwelt auf unser Befinden und Verhalten. Neue Wohnformen müssen gefunden und ausprobiert werden.

Leider sind die Erkenntnisse aus der Wohn- und Architekturpsychologie meines Wissens noch kein fester Bestandteil in der Ausbildung der Architekten, denn eine gute Wohnqualität erhöht die Lebensqualität der Menschen und kann einen Beitrag zu Gesundheit und Wohlbefinden leisten.

Welche konkreten Aspekte der Architektur/Innenarchitektur gibt es, die sich nachweislich positiv auf ältere Menschen und Menschen mit Demenz auswirken?

Nina Marggraf:

Ganz wichtig ist, dass die Architektur und Raumgestaltung den Menschen Sicherheit und Orientierung bietet und das Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit und Kompetenz weitestgehend erfüllt werden kann.  

Barrierefreiheit ist ein wichtiger und in der Planung meist schon selbstverständlicher Bestandteil. Daneben ist alles, was räumlichen Stress verursacht, belastend für unser Befinden, bei älteren Menschen und Menschen mit kognitiven Einschränkungen trifft dies in besonderem Maße zu, da sie schlechter mit Umweltstressoren umgehen können und öfter in institutionellen Einrichtungen leben, die ihnen fremd sind und deren Gestaltung sie wenig bis gar nicht beeinflussen können.

Räumlicher Stress entsteht z. B. durch sensorische Belastungen, ein Zuviel an Reizen, wie Farben, Formen, Geräuschen und Gerüchen kann sich ebenso negativ auswirken wie ein fehlendes adäquates Stimulationsniveau.

Ein weiterer Stressor ist der Kontrollverlust, versursacht durch nicht ablesbare Raumstrukturen. Desorientierung verursacht in besonderem Maße Angst, das Gefühl sich nicht mehr zurechtzufinden und keinen Einfluss auf räumliche Parameter oder die direkte Umwelt mehr nehmen zu können, und er nimmt auch ein Stück Selbstbestimmung, ein Gefühl das aber möglichst lange erhalten bleiben sollte. 

Eine ausreichende Beleuchtungsstärke und visuelle Kontraste helfen auch dabei, sich gut zu orientieren.

Ein weiterer Aspekt, zu dem die gebaute Umwelt maßgeblich beiträgt, ist die Isolation bzw. auch das Crowding, ein Gefühl von Zuviel an sozialen Kontakten, das nicht regulierbar ist. Eine richtige Zonierung von öffentlichen, halböffentlichen, halbprivaten und privaten Bereichen ist wichtig. Wenn die Privatsphäre nicht ausreichend gewahrt werden kann, kommt es zu einem Rückzug, der letztendlich in die Isolation führt. Räume und Möglichkeiten für soziale Kontakte, die gut erreichbar sind, mit einem eindeutigen Aufforderungscharakter, sowie ausreichend geschützte Privatbereiche können dem entgegenwirken.

Welche Leitkonzepte sind dabei besonders wichtig (Farben, Formen, Orientierungshilfen, emotionale Ortsbindung)?

Nina Marggraf: Um räumlichem Stress durch sensorische Belastungen im visuellen Bereich entgegenzuwirken, ist die Natur ein gutes Vorbild. In Studien wurde nachgewiesen, wie heilsam ein Blick in die Natur sein kann, wo immer dies möglich ist, sollte ein Ausblick genutzt werden können. Wenn dieser fehlt, kann er durch Pflanzen, entsprechende Farben, natürliche Materialien oder auch großformatige Naturbilder – wenigstens teilweise – kompensiert werden. 

Mit entsprechender Planung und Ausstattung kann auch eine gute Raumakustik umgesetzt werden, die eine Überforderung durch zu viele Geräusche und schlechte Verständlichkeit reduziert.

Hilfreich zur Orientierung ist eine ablesbare, möglichst kleinteilige Architektur.

Sichtbeziehungen spielen hier eine Rolle, genauso wie eine Wegführung, die eindeutig und nicht zu lang ist. Durch Kontraste zwischen Boden und Wand bzw. Wand und Decke, kann eine Raum leichter wahrgenommen und verstanden werden. Dabei sollte der Boden die dunkelste Fläche sein, die Sicherheit vermittelt und die Decke am hellsten, wiederum angelehnt an Naturerfahrungen. Wichtig ist auch, Spiegelungen und Blendungen zu vermeiden, denn diese führen oft zu Fehlinterpretationen, welche wiederum zu Gangunsicherheiten führen und die Sturzgefahr erhöhen.

Ein Farbkonzept zur Orientierung reicht meist nicht aus, besser ist die Kombination von Farbe, Bild und Schrift, so werden verschiedene Bereiche des Gehirns angesprochen und die Merkfähigkeit erleichtert.

Zur Orientierung erstellt sich das Gehirn eine Art Landkarte, die sich an markanten Punkten orientiert, wobei dies nicht nur visuelle Objekte sind, sondern auch Geräusche und Gerüche.

Vertraute Gegenstände bieten uns Sicherheit. Deshalb ist es besonders schön, wenn es Bewohnern eines Pflegeheims ermöglicht wird, das eigene Zimmer möglichst individuell und mit ihren eigenen, vertrauten Möbeln und Gegenständen auszustatten. Das stärkt zum einen die emotionale Ortsbindung, die durch mehrere Aneignungsprozesse entsteht und ermöglicht ein Stück Selbstwirksamkeit.

Den eigenen Lebensraum, die eigene persönliche Nische zu gestalten ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der seelischen Gesundheit. 

Speziell in einer Pflegeeinrichtung ist es wichtig, den Bewohnern vielfältige Aufenthaltsbereiche im Innern wie auch im Freien zu bieten. Die Aufenthaltsbereiche sollten so gelegen sein, dass sie leicht und gefahrlos auffindbar sind und vielfältige Sichtbeziehungen bestehen. So wird auch die Mobilität im positiven Sinne unterstützt.

Und welche Materialien sollten daher vorzugsweise bei Pflegeheimbauten/betreutem Wohnen zum Einsatz kommen?

Nina Marggraf: Bei Pflegeheimen müssen die Materialien natürlich den Hygieneanforderungen entsprechen, aber – wo möglich – sollten auch hier natürliche Materialien zum Einsatz kommen.

Der Tastsinn bzw. die Haut ist unser größtes Sinnesorgan, und jede Berührung löst Emotionen aus.

Natürliche Materialien werden meist positiv wahrgenommen, einen Handlauf aus Holz fassen wir lieber an, als einen aus Metall. Und auch die Gerüche natürlicher Materialen sind in der Regel angenehmer, besonders, wenn wir an Holz denken.

Je älter wir werden, desto mehr Licht brauchen wir. Im Vergleich zu einem 20-jährigen benötigt ein 60-Jähriger dreimal, ein 80-jähriger sogar fünfmal so viel Licht. Seheinschränkungen und unzureichende Beleuchtung führen zu einer erhöhten Unfall- und Sturzgefahr. Auf welche Beleuchtungskonzepte setzen Sie bei Ihren Projekten Pflegeheim/betreutes Wohnen betreffend?

Nina Marggraf: Gerade im Zusammenhang mit Pflegeheimen spielt die Beleuchtung eine wichtige Rolle, denn Bewohner einer Pflegeeinrichtung zählen zu den Personengruppen mit der niedrigsten Tageslichtexposition, nur 9 Minuten täglich sollen es sein. Doch das Tageslicht hat einen großen Einfluss auf verschiedene körperliche Prozesse. Besondere Bedeutung kommt hier dem Tag-Nacht-Rhythmus zu, der durch den Botenstoff Melatonin gesteuert wird. Kurz geschildert, wird bei hellerem Licht (morgens/vormittags) die Ausschüttung von Melatonin gedrosselt, was zu mehr Aktivität und Wachheit führt, beim Dunkler werden (nachmittags/abends) steigt der Melatoninspiegel an, was den Schlaf fördert. Sogenanntes biodynamisches Licht oder HCL (Human Centric Light) imitiert den Verlauf des Tageslichts, indem sich die Beleuchtungsstärke und Farbtemperatur über den Tag nach Vorbild der natürlichen Beleuchtung ändert. Solche Beleuchtungskonzepte können gut in Bereichen, in denen sich die Bewohner viel aufhalten, wie den Aufenthaltsräumen und auch Fluren, die in Bestandsgebäuden ja oft innenliegend sind, eingesetzt werden. 


In ihren eigenen Zimmern, sollten die Bewohner selbst bestimmen können, wann sie wie viel Licht benötigen, hier spielt die Atmosphäre, die das Licht erzeugen kann und die Selbstwirksamkeit eine größere Rolle. Dennoch sollte eine hohe Beleuchtungsstärke auch hier möglich sein. 

Wie wirken sich angemessene Lichtlösungen auf die Bewohnerinnen und Bewohner aus?

Nina Marggraf: Schlechte oder unzureichende Beleuchtung in Pflegeeinrichtungen ist ein großes Problem. Besonders für Menschen mit Demenz sind in diesem Zusammenhang, neben Schlafstörungen und der Sturzgefahr, Auswirkungen auf Angst, Unruhe, Aggressivität, Apathie und Kompetenzverlust zu nennen. Die Studienlage zum Einsatz von biodynamischer Beleuchtung ist leider nicht ganz eindeutig, aber es wird immer wieder berichtet, dass sich der Schlaf-Wachrhythmus verbessert, es signifikant weniger Stürze gibt durch ein höheres Sicherheitsgefühl beim Gehen, die Bewohner wacher und aktiver sind und auch emotional stabiler. 

Eine gute Beleuchtung wirkt sich aber nicht nur auf die Bewohner aus, auch das Pflegepersonal profitiert davon und empfindet eine höhere Arbeitsplatzqualität, was zu mehr Zufriedenheit führt.

Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

Titelfoto: Tagespflege Harthausen, Fotografie Bernhard Krause 

Pflegeheim in Filderstadt–Harthausen, Fotografie Dietmar Strauß


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