Dr. Caroline von Kretschmann ist Geschäftsführende Gesellschafterin im Europäischen Hof Heidelberg. Ihre Urgroßeltern Gabler haben das Haus in Heidelberg zu einem der führenden Grandhotels in Deutschland gemacht. Unter der Führung ihrer Eltern ist es gelungen, den Europäischen Hof als eines der wenigen privat geführten 5 Sterne Stadthotels zu erhalten und stark zu erweitern. Nun ist sie es, die in der 4. Generation das Ruder in der Hand hält. Dabei setzt sie bei ihrem Führungsansatz auf Servant Leadership.

Regelmäßig ermittelt das Meinungsforschungsinstitut Forsa das repräsentative Vertrauensranking in Berufsgruppen/Institutionen. Auch die aktuellsten Ergebnisse (Stand: Januar 2025) zeigen wieder, dass Ärzteschaft und Polizei mit über 80 Prozent das höchste Vertrauen in der Bevölkerung genießen. Die politischen Parteien rangieren bei etwa 15 Prozent, während – abgeschlagen – nur um die drei Prozent Werbeagenturen und sozialen Medien vertrauen. Auch Unternehmer/Manager findet man im Ranking relativ weit hinten. Lediglich der eigene Arbeitgeber genießt deutlich mehr Vertrauen. Wie kommt das? Und warum ist Vertrauen so wichtig, warum brauchen wir alle Vertrauen?

Dr. Caroline von Kretschmann: Niklas Luhmann, der bekannte deutsche Soziologe und Gesellschaftstheoretiker, bezeichnete Vertrauen als „die Strategie mit der größeren Reichweite und höchsten Effizienz“. Für mich spielt achtsames – nicht blindes –Vertrauen eine zentrale Rolle in der Führung. Im Europäischen Hof Heidelberg ist Vertrauen nicht nur ein Wert, sondern die stille Kraft hinter allem Gelingen: in Beziehungen, in Organisationen, in Gesellschaften. Es ist das, was bleibt, wenn man alles andere wegnimmt: Prozesse, Systeme, Strategien.

Vertrauen ist der Grund, warum Menschen sich einlassen, Verantwortung übernehmen, loslassen oder weitermachen, auch wenn es schwer wird.

Es bildet das Fundament unserer wertebasierten, empathischen Unternehmenskultur und ist entscheidend für Zufriedenheit, Loyalität und Bindung unserer Kolleginnen und Kollegen.

Dass Ärztinnen, Ärzte und die Polizei regelmäßig an der Spitze des Vertrauensrankings stehen, überrascht kaum. Diese Berufe berühren unsere elementarsten Bedürfnisse: Gesundheit, Schutz, Sicherheit. Sie begegnen uns in Momenten größter Verletzlichkeit oder in der Not. Beide Berufsgruppen symbolisieren Fürsorge und Stabilität, etwas zutiefst Menschliches.

Demgegenüber stehen Manager oder Werbetreibende für viele Menschen für abstrakte Anliegen wie Macht, Geld oder Eigeninteresse, selten aber für das Gemeinwohl. Hinzu kommt: Die Menschen hinter diesen Rollen bleiben oft unsichtbar.

Doch Vertrauen braucht Nähe, Haltung und Verlässlichkeit, nicht Funktion, Macht oder Inszenierung. Es entsteht im Konkreten, im Miteinander, im Alltag.

Deshalb genießt der eigene Arbeitgeber oder die direkte Führungskraft oft deutlich mehr Vertrauen als ein abstrakter Unternehmensbegriff oder „die Wirtschaft“ insgesamt.

Auch der Vertrauensverlust gegenüber Politik und Parteien folgt dieser Logik. Sie stehen für Distanz, Komplexität, endlose Kommunikation und für Prozesse, in denen sich viele emotional nicht mehr wiederfinden. Vertrauen bricht dort, wo zwischen Wort und Tat eine zu große Lücke klafft. Wo Inszenierung Authentizität verdrängt. Doch Vertrauen ist unverzichtbar. Weil wir Menschen sind, verletzliche, soziale Wesen in komplexen Systemen, die auf Nichtwissen und Unsicherheit beruhen. Wir wissen nie sicher, was geschieht, was wir auslösen, was andere tun und müssen dennoch agieren. Vertrauen ist die Brücke über diese Kluft. Es ermöglicht Kooperation, Verbindung, gemeinsames Handeln.

Vertrauen ist, mit einem Bild gesprochen, das Schmieröl im Getriebe des Zusammenlebens. Ohne läuft es auch, aber es knirscht, reibt, stockt. Und irgendwann bleibt es stehen. Genau das spüren wir heute leider auf allen Ebenen der Gesellschaft. Und weltweit.

Wie schafft man Vertrauen in das eigene Unternehmen – von innen und von außen?

Dr. Caroline von Kretschmann: Vertrauen wurzelt häufig in früher Bindungserfahrung. Später entwickelt sich Vertrauen oft, wenn jemand gibt, obwohl er nicht muss, oder nicht nimmt, obwohl er könnte. Meine Erfahrung im Leben ist, dass je mehr Vertrauen man schenkt, desto mehr bekommt man zurück. Ich bemühe mich, zu ausnahmslos jedem Zeitpunkt vertrauenswürdig zu handeln und anderen achtsam zu vertrauen, getragen von einem positiven Menschenbild. Es ist zutiefst berührend zu erleben, wie Menschen über sich hinauswachsen, wenn man ihnen Vertrauen schenkt. Dann wachsen ihnen im wahrsten Sinne des Wortes Flügel. Vertrauen ist kein strategisches Ziel, sondern ein kulturelles Ergebnis. Es lässt sich nicht verordnen und entsteht nicht durch Imagekampagnen oder Hochglanzbroschüren.

Vertrauen wächst dort, wo Haltung sichtbar wird, in der Art, wie wir führen, zuhören, entscheiden, sprechen und Beziehungen gestalten. 

Im Europäischen Hof Heidelberg bemühen wir uns um eine Vertrauenskultur, die nicht auf Kontrolle basiert, sondern auf echtem Zutrauen. Sie beginnt mit aufrichtigem Interesse am Menschen, mit Empathie, Zugewandtheit und mit klaren Prinzipien, die auch dann Bestand haben, wenn es schwierig wird. Und sie beginnt beim Vorbild: Wir handeln fair, integer, verlässlich und verantwortlich. Wir kommunizieren nach innen wie nach außen transparent, ehrlich und verbindlich, und wir teilen nicht nur Erfolge, sondern auch Zweifel. Unsere Entscheidungen folgen dem Anspruch, dass sich Menschen ernst genommen fühlen. Vertrauen ist tägliche Kulturarbeit. Aber sie lohnt sich: Wer im Inneren glaubwürdig handelt, wird im Außen als vertrauenswürdig erlebt. Authentizität lässt sich nicht inszenieren. Sie wird gespürt.

Eine funktionierende Vertrauenskultur bildet die Basis von guter und nachhaltiger Führung. Auf gegenseitiges Vertrauen und eine verstehende und zuhörende Haltung (unabhängig von Hierarchie und Inselwissen) gründet auch Servant Leadership (dienende Führung). Sie sind eine Verfechterin von Servant Leadership. Was bedeutet Servant Leadership für Sie: in Ihrem Berufsalltag, als Führungsaufgabe?

Dr. Caroline von Kretschmann: Servant Leadership ist für uns kein Managementtrend, sondern Ausdruck eines über vier Generationen gewachsenen Wertefundaments. Es gab bei uns keinen einzelnen Wendepunkt wohl aber viele prägende Momente, in denen sich gezeigt hat, wie kraftvoll es ist, Führung als Dienst am Menschen zu begreifen. Es geht nicht um Macht, sondern um Verantwortung. Nicht um Kontrolle, sondern um Vertrauen. Und nicht um das Ego des Führenden, sondern um die Bedürfnisse der Geführten und um ein größeres Ganzes. Für uns bedeutet das: den Rahmen zu schaffen, in dem Menschen sich entfalten und gemeinsam über sich hinauswachsen können. Man könnte es auch so ausdrücken: Wer führen will, muss Menschen lieben und sie zum Blühen bringen wollen. 

Servant Leadership ist eine Haltung. Es geht darum, die eigene Rolle nicht als Status zu verstehen, sondern als Dienst: am Team, an der Organisation, an einem gemeinsamen Ziel.

In unserem Führungsalltag heißt das: Ich frage nicht zuerst, was ich erreichen will, sondern, was mein Team braucht, um wirksam zu sein. Ich höre zu, bevor ich spreche. Ich frage, bevor ich urteile. Ich lasse Raum, aber übernehme Verantwortung. Ich bin präsent, aber nicht dominant.

Diese Art zu führen verlangt Mut zur Selbstreflexion. Sie fordert, eigene Eitelkeiten zu hinterfragen, Unsicherheiten auszuhalten, Kontrolle loszulassen. Aber genau darin liegt ihre Kraft.

Denn sie verändert nicht nur das Miteinander, sie verändert auch uns selbst. Führung ist keine Position in der Hierarchie. Führung ist eine innere Haltung und Verantwortung. Und Dienen heißt für mich nicht, sich klein zu machen, sondern groß zu denken: Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen in psychologischer Sicherheit wachsen, Verantwortung übernehmen und ihr Potenzial entfalten können. Ich verstehe mich dabei nicht als Anweiserin, die alles besser weiß, sondern als Impulsgeberin, Möglichmacherin, Coach und manchmal auch als progressive Kraft, die durch wohlwollende Irritation, klares Feedback und Vertrauen Wachstum ermöglicht.

Was ist das Besondere an Servant Leadership – und was sind die Vorteile?

Dr. Caroline von Kretschmann:

Der größte Unterschied zur klassischen Führung liegt im Perspektivwechsel: Nicht „Was kann mein Team für mich tun?“, sondern „Was kann ich für mein Team tun?“. Diese Umkehr ist keine Schwäche, sie ist für uns ein Zeichen von Stärke und Klarheit. Sie basiert auf der Erkenntnis: Führung ist dann erfolgreich, wenn andere stark werden.

Servant Leadership stärkt Beziehungen. Sie schafft Vertrauen, Sinn und Identifikation. Menschen, die sich gesehen, gehört und geschätzt fühlen, bringen mehr von sich ein, mit Herz, Verstand und Haltung. Das macht Teams resilienter, kreativer, lernfähiger. Zugleich entsteht eine Kultur psychologischer Sicherheit, also ein Umfeld, in dem man Fragen stellen, Fehler machen und Neues wagen darf. Gerade in Zeiten permanenter Veränderung ist das kein Nice-to-have, sondern überlebenswichtig.

Wir erleben: Eine Kultur des Dienens bringt Verbindung, Zugehörigkeit und schließlich auch Erfolg.

Wer sich gesehen, wertgeschätzt und gefördert fühlt, bringt sich ein. Unsere geringe Fluktuation, hohe Loyalität und hohe Weiterempfehlungsrate sind kein Zufall. Menschlichkeit und wirtschaftliche Stärke sind kein Widerspruch, sondern bedingen sich wechselseitig, gerade in der Spitzenhotellerie. Wenn wir als Führungskräfte Herz und Seele unserer Teams in den Fokus nehmen, können wir echten Wandel ermöglichen. Indem wir diese spezifische Haltung authentisch vorleben, kann eine kollektive Haltung erwachsen, die nicht nur im Unternehmen, sondern auch in der Gesellschaft positiv wirkt.

Wie sorgen Sie dafür, dass sich die Mitarbeitenden und Teammitglieder mit Servant Leadership wertgeschätzt fühlen?

Dr. Caroline von Kretschmann:

Wertschätzung ist bei uns kein Extra. Sie ist das tägliche Brot guter Führung.

Und sie zeigt sich nicht in Maßnahmen, sondern in Haltung, Präsenz und Aufmerksamkeit. Sie zeigt sich im Blick, in der Sprache, in kleinen Gesten und darin, ob ich mir Zeit nehme, auch und gerade dann, wenn ich keine habe. Ich schreibe handgeschriebene Karten, hinterlasse kleine Dankesnotizen. Ich frage nach dem Menschen, nicht nur nach der Leistung. Ich interessiere mich für Lebensumstände, Sorgen, Ideen und die Geschichten meiner Kolleginnen und Kollegen, nicht nur für ihre Aufgaben. Ich lade ein zum Mitdenken. Und ich sorge dafür, dass Menschen ihrer Arbeit Sinn verleihen können.

Denn nichts ist wertvoller, als das Gefühl: „Was ich hier tue, macht einen Unterschied.“ 

Ich höre auch mehr zu, als ich rede. Nicht, weil ich keine Meinung habe, sondern weil echtes Verstehen im Zuhören beginnt. Ich bin im Haus präsent, nicht zur Kontrolle, sondern als ansprechbare, unterstützende Kraft. Wir helfen zum Beispiel im Service, packen mit an, auch beim Putzen, und gehen als Erste dorthin, wo es wehtut. Wenn eine Kollegin einen dringenden Arzttermin für ihr krankes Kind braucht, organisieren wir ihn. Und wenn jemand in einer Krise steckt, hängen wir nicht nur ein kleines Kuscheltier an seine Tür, sondern senden damit das Zeichen: Du bist nicht allein.

Führung heißt, nicht nur zu beobachten, sondern mitzuwirken.

Nah dran zu sein an den Kolleginnen und Kollegen, nicht über ihnen zu stehen. Echtes Leadership und Wertschätzung leben vom Mitgehen, nicht vom Abstandhalten.

Eignet sich Servant Leadership für alle Branchen und Berufsgruppen? Oder sind aus Ihrer Sicht bestimmte Bereiche besonders gut/weniger gut für diesen Führungsstil prädestiniert?

Dr. Caroline von Kretschmann: Ich bin überzeugt: Überall, wo Menschen arbeiten, wirkt Führung. Und überall, wo Führung wirkt, kann auch Servant Leadership wirken, angepasst an Kontext und Struktur. Natürlich gibt es Branchen, in denen klare Weisungsketten nötig sind. So zum Beispiel in sicherheitskritischen oder militärischen Bereichen. Auch im OP-Saal wird nicht basisdemokratisch über den nächsten Schnitt abgestimmt.

Aber selbst dort kann Führung dienend sein: im Umgangston, im Respekt, in der Haltung. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dienende Führung mit Weichheit oder Entscheidungsschwäche gleichzusetzen. Tatsächlich verlangt echte Führung auf Augenhöhe besonderen Mut.

Sie erfordert Mut zur Klarheit, zur Grenzsetzung, zum Umgang mit Gefühlen und zur Übernahme von Verantwortung. Der Satz aus der Führungstheorie „Decision as a Service“ bringt es auf den Punkt. Entscheiden ist immer eine zentrale Führungsleistung, insbesondere, um Unsicherheit zu absorbieren und vor allem in ambivalenten Situationen Orientierung zu geben. Und genau das gelingt besonders wirkungsvoll und nachhaltig aus einer menschenzentrierten, dienenden Haltung heraus. 

Besonders wirksam ist Servant Leadership wahrscheinlich in Branchen, die auf Beziehung und Vertrauen basieren, wie zum Beispiel Bildung, Pflege, Hotellerie, soziale Arbeit. Denn dort entscheidet nicht nur Kompetenz, sondern Präsenz, Echtheit und Würde. 

Wie würden Sie Servant Leadership im Gesundheitswesen und hier ganz speziell im Bereich Pflege einordnen?

Dr. Caroline von Kretschmann:

In der Pflege ist Servant Leadership nicht nur sinnvoll, sondern notwendig.

Denn Pflege ist zutiefst menschlich: Sie berührt Körper, Seele, Existenz. Wer führt, muss hier mehr sein als ein Organisator. Er oder sie muss auch Zuhörer, Mutmacher, Möglichmacher sein. Pflegekräfte stehen oft unter enormem Druck, und sie erleben Führung häufig als Kontrolle statt als Unterstützung. Dabei brauchen sie vermutlich vor allem eines: Resonanz. Das Gefühl, gesehen, gehört und mitgedacht zu werden. 

Servant Leadership bedeutet hier: mitarbeiten, mitfühlen, mitdenken. Entscheidungen so treffen, dass sie den Alltag der Pflegenden erleichtern. Räume schaffen für echte Beteiligung, emotionale Entlastung und Dialog auf Augenhöhe. Und Haltung zeigen für Würde, Vertrauen und Menschlichkeit.

Wenn wir Pflege wirklich stärken wollen, müssen wir auch Führung neu denken: nicht von oben herab, sondern dienend. Nicht kontrollierend, sondern unterstützend. Nicht machtzentriert, sondern menschenzentriert. 

Wir danken Ihnen sehr herzlich für Ihre Ausführungen.

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