Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, ist emeritierter Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine aktuellen Forschungsprojekte beschäftigen sich mit Demenz und Hospiz sowie mit dem subsaharischen Afrika. In diesen beiden Feldern ist er in mehreren Ehrenämtern aktiv und zudem publizistisch tätig.

Was sind die Hauptgründe, warum Dienstleistungsbranchen zusammengebrochen sind bzw. nicht mehr wie früher funktionieren? Und ist das auch ein Generationenthema (z. B. Erwartungshaltung etc.)?

Prof. Reimer Gronemeyer: Brücken brechen zusammen, jede Bahnfahrt ist ein Abenteuer, in Schulen regnet es rein, auf einen Termin beim Orthopäden wartet man Wochen. Was ist da los? Unsere Infrastruktur wurde vernachlässigt. Und die Menschen, die den Apparat am Laufen halten, sind erschöpft. „Ich kann nicht mehr“, sagen viele, vor allem auch junge Menschen. Vielleicht sind die Menschen der wachsenden Beschleunigung und der zunehmenden Atemlosigkeit nicht mehr gewachsen? Viele wollen und können nicht mehr so ‚ranklotzen‘ wie die Generation, die jetzt pensioniert ist. Eine gelungene Work-Life-Balance wünschen sich viele.

Aber wir können wohl nicht beides haben: Aussicht auf eine gute Rente und mehr freie Zeit. 

Gibt es auch Dienstleistungssektoren, die noch gut funktionieren?

Prof. Reimer Gronemeyer: Ich finde es beruhigend, dass die Versorgung mit Lebensmitteln immer noch gut funktioniert. Es gibt keine leeren Regale in Supermärkten, auf den Wochenmärkten und in den (verbliebenen) kleinen Läden.  Aber wer genau hinschaut, sieht, dass Dürre und Überschwemmungen die landwirtschaftliche Produktion bedrohen, dass die Böden ausgelaugt sind, dass das Personal für die Ernte fehlt und dass jedes Jahr Tausende Bäuerinnen und Bauern aufgeben.

Wir müssen etwas tun, damit die Grundlage unseres Lebens nicht gefährdet wird.

Pflegenotstand, Wartezeiten für Arzt- oder Behandlungstermine belaufen sich auf viele Wochen, nicht selten auch mal Monate, freie Plätze in Pflegeheimen sind rar und sehr teuer, auch im Gesundheitswesen herrscht – wie in so vielen anderen Branchen auch – ein gravierender Fachkräfte- und Personalmangel, gleichzeitig fordern immer mehr Jüngere die Viertagewoche und zusätzliche Anreize. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung in der Dienstleistungssparte „Pflege“?

Prof. Reimer Gronemeyer: Die alternde Bevölkerung wächst, die Zahl der Pflegekräfte nimmt ab. Mit der Babyboomer-Generation wird sich diese Schere noch weiter öffnen. Der Anspruch auf geregelte Arbeitszeiten, den jüngere Menschen formulieren, kollidiert mit den Herausforderungen in der Pflege. Da schaukelt sich etwas auf: Es wird immer schwieriger, genügend Pflegekräfte zu finden, dadurch steigt die Belastung für die, die die Arbeit noch machen. Nachtschicht: 180 Patienten und eine Pflegekraft – das ist keine Seltenheit. Wer soll das freiwillig machen? Da kündigt dann auch noch die eine verbliebene Pflegekraft. Ältere Pflegekräfte und Pflegeleitungen klagen: Die Jüngeren würden die Pflege nur noch als Job sehen, die Haltung fehle.

Das stimmt sicher nicht immer, aber die Auffassung vom Beruf „Pflege“ hat sich schon geändert.

Überraschend am Wochenende einspringen, weil jemand ausgefallen ist? So etwas machen viele nicht mehr. Dafür gibt es gute Gründe (Familie, Freizeitprogramm, Erholungswünsche). Aber da tun sich dann eben Abgründe auf, wenn pflegebedürftige Menschen in ihren schmutzigen Windeln liegen und niemand da ist, der helfen kann. Die aufopferungsbereite Diakonisse, die auf sich und ihre Wünsche keine Rücksicht nimmt, ist nicht mehr da. Stattdessen junge Pflegerinnen und Pfleger, die auf ihre Work-Life-Balance achten.

Professionelle Pflege ist keine moralische Frage mehr, sondern ein Job, der gemacht wird. Oder nicht.

Die alten Zeiten kommen nicht wieder. Aber in den neuen Zeiten brauchte man eben mehr Personal und das gibt es nicht. Ein wirkliches Dilemma, mit denen die Profis täglich zu kämpfen haben.   

Welche akuten Gefahren entstehen hierdurch in der Pflege?

Prof. Reimer Gronemeyer: In den kommenden Jahren werden mehr und mehr Menschen die Erfahrung machen, dass sie keinen Platz in der ambulanten oder stationären Pflege finden. Für die Angehörigen eine dramatische Zuspitzung. Erschöpfung und Burnout, Gewalt und Vernachlässigung werden in den Alltag mit großer Heftigkeit zurückkehren. Frust und Enttäuschung werden in der professionellen Pflege zunehmen, was die Entscheidung, lieber Friseur zu sein als Pfleger, verstärken dürfte. Der Ruf nach autoritären Antworten dürfte lauter werden: Der Ruf nach einer Dienstpflicht für Jungsenioren in der Pflege wird lauter werden. Die Auslagerung von Pflegefällen wird zunehmen (thailändische Heime als Zufluchtsorte), die Anwerbung von Pflegekräften aus fernsten Regionen wird zunehmen (kehrt damit der Kolonialismus ein bisschen zurück?), die Ausstattung mit Automaten und Robotern wird zunehmen. Wollen wir das?

Die drohende Pflegekatastrophe wird zur zentralen sozialen Frage dieser Gesellschaft.    

Gibt es auch Chancen? Welche sehen Sie für die Pflege konkret?

Prof. Reimer Gronemeyer: Norbert Blüm hat vor vielen Jahren als Minister gesagt: „Pflegen kann jeder“. Das ist wahr und falsch. Aber eines ist klar: Ohne Caring Society wird es nicht gehen. Die sorgende Gesellschaft sehe ich als den Versuch einer Antwort auf die Frage: Wir kommen wir raus aus der Pflegekatastrophe. Dazu gehört die Frage: Was können wir selbst? Diese Frage wird sich den Babyboomern in den kommenden Jahren stellen. Da ist schon vieles im Werden und auf dem Wege. Die neuen Antworten reichen von einem unvermeidlichen zivilgesellschaftlichen Aufbruch bis zu den zahllosen Versuchen, neue Formen des gemeinsamen Wohnens und Lebens zu versuchen. Diese experimentellen Lebensformen (zum Beispiel unter der Überschrift: „Verschiedene Generationen leben zusammen“) stehen auch vor der Frage: Was tun, wenn ein Mitglied der neuen Gemeinschaft hilfsbedürftig wird? Bleibt dann nur das Heim? Oder gelingen gemeinschaftliche Formen der Sorge? Eine wachsende Zahl von alleinlebenden alten Menschen steht vor unlösbaren kleinen und großen Problemen: Wer wechselt die Glühbirne in der Deckenleuchte? Wer macht mein Onlinebanking, wenn es keine Bankfiliale mehr in der Nähe gibt? Hilfsbedürftig sein heißt ja nicht gleich: Wer wechselt die Windeln? Sondern die tausend kleinen Dinge des Alltags, für die plötzlich Hilfe gebraucht wird, die können einen reif machen für den Umzug in ein Heim. Und darauf brauchen wir eigene und innovative Antworten, die jenseits der bezahlten professionellen Dienstleistung zu suchen und zu finden sind.

Freundschaften, Netzwerke, ehrenamtliche Bereitschaften werden einen gewaltigen Aufschwung erleben – oder die nächsten Generationen gehen in einer Pflegekatastrophe unter.

Wir können viel mehr als wir gedacht haben und die Notsituation, in der wir uns befinden, wird Kräfte freisetzen, von denen wir noch nichts ahnen. 

Die Krankmeldungen des laufenden Jahres haben erneut einen Höchststand erreicht. Bis zum August gab es so viele Krankheitsfälle wie im gesamten Vorjahr. Was sind vor allem in der Pflegebranche die Gründe und geht es den Menschen tatsächlich immer schlechter?

Prof. Reimer Gronemeyer: Woher kommt die Erschöpfung? Warum sagen so viele: „Ich kann nicht mehr?“

Das Phänomen der rasant zunehmenden Krankmeldungen zeigt eine Krise der Gesellschaft an: Die Kräfte schwinden. Die Bewältigung des Alltags mit seinen überbordenden, wachsenden Anforderungen bringt viele an den Rand des Zusammenbruchs: Viele sagen: Ich kann nicht mehr, und ich will nicht mehr. Der Ausweg liegt nicht in mehr Kontrolle, mehr Bestrafung, mehr Ausschließung. Der Ausweg liegt im Aufbruch aus der scheiternden Dienstleistungsgesellschaft. Die ist schwierig, aber möglich. 

Ich denke, wir haben uns mit dem immer perfekteren Ausbau der Dienstleistungsgesellschaft in eine Sackgasse manövriert.

Lange hieß es: Wir haben ein Problem, wir brauchen eine Lösung.  Und wir haben die Antwort in immer neuen Formen der professionellen, bezahlten Dienstleistung gesucht. Das funktioniert nicht mehr, es gibt nicht genug Geld und nicht genug Personal. Wir müssen schauen, was wir selbst können, wir müssen fragen: Brauche ich das eigentlich? Selbstbegrenzung macht frei.

Wir konsumieren uns zu Tode, dafür brauchen wir Geld und Zeit, die an unseren Kräften zehrt. 

Ich frage jetzt einmal ganz bewusst nicht danach, was die Politik tun sollte, um eine Verbesserung zu erzielen. Ich frage danach, was unsere Gesellschaft und was die Pflegebranche selbst tun sollten und könnten, um die Lage besser zu machen?

Prof. Reimer Gronemeyer: Natürlich brauchen Angehörige und Pflegekräfte Entlastung – und sie brauchen Unterstützung. Mehr Geld und mehr Pflegekräfte wird es aber voraussichtlich nicht geben. Wir müssen uns darum aus den Fängen einer entmündigenden Dienstleistungsgesellschaft befreien. Was können wir selbst? Wen können wir um Hilfe fragen? Machen Sie den Versuch und bitten jemanden um Hilfe: Sie werden selten auf Ablehnung stoßen. Wir müssen die Frage wieder entdecken: „Hilfst Du mir?“ Da wird nicht alles gleich klappen. Aber zahlreiche kleine Verrichtungen und Nöte des Alltags lassen sich nachbarschaftlich oder freundschaftlich lösen. Die gibt es ja auch, wir wären schon längst untergegangen, wenn es nicht täglich Zig-Tausende solcher Hilfsleistungen gäbe. Sie werden nicht gesehen und nicht gezählt, aber wir leben davon.

Die Caring Society ist schon da, aber sie muss über die Ufer treten und die Gesellschaft durchströmen.

Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als diesen neuen, herausfordernden und vielleicht auch beglückenden Weg zu beschreiten, den Weg in die sorgende Gemeinschaft. In der stationären Pflege. In der ambulanten Pflege. Im Apartment im zehnten Stock, wo jemand allein ist: Wir haben die Nächstenliebe aufgegeben und alles der bezahlten Dienstleistung anvertraut. Jetzt funktioniert das nicht mehr. Aber es gibt einen Weg zurück, der zugleich ein Weg nach vorn ist. 

Weitere Überlegungen dazu und mehr Antworten finden Sie in:

Reimer Gronemeyer: „Nichts funktioniert mehr. Welche Chance! Vom Ende der Dienstleistungsgesellschaft“, Rastede 2024, Edition Einwurf, Taschenbuch, 1. Auflage 25. Oktober 2024, 160 Seiten, 18,00 Euro, ISBN: 978-3896847171 

>> Hier geht es zu dem Buchtipp….

Porträtfoto Prof. Gronemeyer: © Pietro Sutera

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