Dr. Sarah Straub (geb. 1986) ist promovierte Diplom-Psychologin, Autorin und Musikerin. Zudem leitet sie eine Demenz-Sprechstunde am Universitätsklinikum Ulm. Als Gast in TV- und Radiosendungen, in Fachvorträgen und in ihrer Funktion als Botschafterin der Bundesinitiative Musik und Demenz setzt sie sich für eine demenzsensible Gesellschaft ein. Parallel dazu ist sie als Musikerin deutschlandweit auf Tour und nutzt auch hier ihre Stimme, um das Thema Demenz einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als Autorin veröffentlichte Sarah Straub mehrere Sachbücher, zuletzt „Lebensmut trotz(t) Demenz“, in dem sie Lebensgeschichten von Menschen mit Demenz erzählt. Mit diesen Begegnungen möchte sie andere ermutigen, gestärkt und lebensbejahend mit dem Thema umzugehen. 2025 gründete sie die Deutsche Gesellschaft für frontotemporale Degeneration (DGFTD e.V.).

Wie sind Sie dazu gekommen, sich generell dem Thema Demenz anzunehmen?

Dr. Sarah Straub: Ich war Anfang zwanzig, als meine Großmutter an Demenz erkrankte. Ich wollte sie unbedingt selbst pflegen, denn ich habe diese Frau sehr geliebt.

Umso bitterer war die Erkenntnis, dass ich als pflegende Angehörige völlig überfordert war.

Ich wusste nichts über Demenz, nichts über Pflege, und ich hatte ständig das Gefühl, meiner Oma nicht gerecht zu werden. Nach meinem Empfinden gelang es mir kaum, ihr Lebensqualität zu schenken.

Diese Erfahrung hat mein Leben verändert. Nach ihrem Tod stand für mich fest, dass ich dort unterstützen möchte, wo ich selbst in der Begleitung eines Menschen mit Demenz an meine Grenzen gestoßen war. So begann ich, mich als Neuropsychologin auf Demenz zu spezialisieren, zunächst in der Forschung – und schließlich darin, Familien zu beraten und zu begleiten.

Und was war der Grund, eine Spezialsprechstunde gezielt für frontotemporale Demenz anzubieten? Wer besucht üblicherweise Ihre Sprechstunde, für wen sind Sie Ansprechpartnerin?

Dr. Sarah Straub: Ich habe über die frontotemporale Demenz (FTD) promoviert und mich viele Jahre intensiv mit diesem Krankheitsbild beschäftigt. Zunächst war es tatsächlich vor allem ein wissenschaftliches Interesse: Die Betroffenen erkranken meist schon vor dem 65. Lebensjahr, einige meiner jüngsten Patientinnen und Patienten sind gerade einmal um die 30 Jahre alt. Sie entwickeln Verhaltensauffälligkeiten und/oder Sprachstörungen und zeigen nicht selten auch parkinsonähnliche Bewegungsstörungen. FTD beschreibt ein ganzes Spektrum von Erkrankungen – diagnostisch komplex, mit vielschichtigen zugrunde liegenden Pathologien. Etwa 20 Prozent der Betroffenen tragen zudem eine Genmutation in sich, die direkt für die Erkrankung verantwortlich ist.

Mit der Zeit wurde mir jedoch immer deutlicher, wie allein gelassen sich die betroffenen Familien fühlen.

Unser pflegerisches Versorgungssystem ist auf so junge Patientinnen und Patienten kaum vorbereitet. Am Universitätsklinikum Ulm begleiten wir unsere Patientinnen und Patienten deshalb heute ganzheitlich: Wir stellen die Diagnose, wir beraten – und wir sind Ansprechpartner für die alltäglichen Sorgen und Nöte der pflegenden Angehörigen. Letztes Jahr gründeten wir gemeinsam mit anderen FTD-Expertinnen und -Experten aus ganz Deutschland die Deutsche Gesellschaft für frontotemporale Degeneration (DGFTD e.V.). Wir brauchen spezialisierte Diagnostikzentren, geschulte Pflegekräfte, flexible Beratungs- und Unterstützungsstrukturen sowie rechtliche und berufliche Hilfen für jüngere Erkrankte. Daran arbeiten wir mit viel Herzblut und Engagement.

Subjektiv betrachtet, gewinnt diese Form der Demenz gerade sehr an Bedeutung. Woran liegt das – gibt es tatsächlich immer mehr FTD-Fälle, liegt es an der Wahrnehmung durch den bekannten Schauspieler Bruce Willis, haben sich die Diagnosen verbessert?

Dr. Sarah Straub: Tatsächlich verfügen wir erst seit 2011 über wirklich klare Diagnosekriterien, die es ärztlichen Kolleginnen und Kollegen ermöglichen, eine FTD so zuverlässig wie möglich zu erkennen. Früher – davon bin ich überzeugt – haben viele Betroffene die Diagnose gar nicht erhalten und wurden stattdessen mit Fehldiagnosen behandelt.

Parallel dazu schärft sich inzwischen auch das öffentliche Bewusstsein für diese Demenzform.

Der offene und transparente Umgang der Familie Willis mit der Erkrankung ist für uns, die wir in diesem Bereich arbeiten und uns engagieren, ein großes Geschenk.

Denn er macht nicht nur sichtbar, wie belastend diese Erkrankung ist, sondern er eröffnet auch Gespräche, schafft Verständnis – und gibt vielen Betroffenen und Angehörigen das Gefühl, endlich nicht mehr unsichtbar zu sein.

Was raten Sie Menschen – pflegenden Angehörigen und auch den Erkrankten selbst –, die von FTD betroffen sind bzw. die Diagnose FTD erhalten haben? 

Dr. Sarah Straub: Vernetzen Sie sich mit anderen betroffenen Familien – gerne auch überregional, zum Beispiel in Online-Angehörigengruppen. Da es sich bei FTD um eine seltenere Demenzform handelt, gibt es vor Ort oft keine wirklich spezialisierten Angebote. 

Suchen Sie sich unbedingt eine ärztliche Ansprechperson, die sich mit FTD gut auskennt. In Deutschland gibt es einige spezialisierte FTD-Ambulanzen; es lohnt sich, diese aufzusuchen, da die medizinischen Fragen und Herausforderungen sehr spezifisch sind.

Eignen Sie sich außerdem Wissen über die Erkrankung an. Wir alle müssen ein Stück weit selbst zu FTD-Expertinnen und -Experten werden, um Betroffene gut und sicher begleiten zu können.

Gehen Sie offen mit der Erkrankung um, denn das hilft, dem Stigma entgegenzuwirken, das FTD noch immer umgibt. Viele betroffene Familien ziehen sich im Laufe der Zeit zurück: weil Entlastungsangebote nicht ausreichen, weil Pflegeeinrichtungen junge Betroffene ablehnen und weil Angehörige sich schließlich verpflichtet fühlen, alles allein zu stemmen. Doch niemand kann diese Aufgabe dauerhaft ohne Unterstützung bewältigen.

Sie brauchen ein verlässliches Netzwerk an Menschen und Angeboten, das Sie entlastet und mitträgt. Sonst riskieren Sie, Ihre eigene körperliche und seelische Gesundheit zu gefährden.

Sie selbst waren pflegende Angehörige. Wie haben Sie diese Zeit empfunden? Was war besonders herausfordernd?

Dr. Sarah Straub: Als junge Frau habe ich besonders unter der Rollenumkehr mit meiner Oma gelitten. Es gab durchaus schöne, intime Momente – sie zu waschen, sie zu füttern, diese Nähe zu erleben. Gleichzeitig habe ich die Person unendlich vermisst, die sie vor ihrer Erkrankung gewesen war.

Als sie schließlich im Pflegeheim lebte, war sie sehr unglücklich und gab mir immer wieder das Gefühl, dass ich schuld daran sei, dass sie nicht mehr zuhause sein durfte. Das hat mich tief verletzt.

Ich konnte mich damals nicht abgrenzen und wusste nicht, dass ihre Not im Grunde nichts mit mir persönlich zu tun hatte. Ich wusste schlicht zu wenig über Demenz.

Viele Jahre später habe ich auch meinen an Demenz erkrankten Schwiegervater begleitet – diesmal zu einer Zeit, in der ich längst als Demenzexpertin gearbeitet habe. Und trotzdem war ich als pflegende Angehörige immer wieder überfordert. Die Begleitung eines Menschen mit Demenz ist komplex, sie fordert uns emotional, körperlich und mental. Es hat mich demütig gemacht, erneut in dieser Rolle zu stehen.

Heute sehe ich die herausfordernde Situation der pflegenden Angehörigen mit anderen Augen. Und ich hüte mich davor, den Familien, die ich begleite, das Gefühl zu geben, es müsse „einfach“ sein.

Es ist niemals einfach! Und gerade deshalb verdienen Angehörige Verständnis, Respekt und Unterstützung.

Und gab es auch besonders schöne Momente?

Dr. Sarah Straub: Natürlich gab es diese schönen Momente. Und genau sie sind es, die mich heute mit dieser Zeit versöhnen. Ich durfte sowohl meine Oma als auch meinen Schwiegervater noch einmal ganz neu kennenlernen und unsere Beziehung zu ihnen auf eine andere, tiefere Weise entdecken.

Mein Schwiegervater zum Beispiel, ein Mann, der früher eher streng und stoisch wirkte, wurde in seiner Erkrankung erstaunlich liebevoll und weich. Dafür empfinde ich bis heute große Dankbarkeit.

Ihn so erleben zu dürfen, war ein Geschenk – eines, das mir gezeigt hat, wie sehr sich hinter der Demenz manchmal auch neue Facetten eines Menschen öffnen können.

Sie sind auch Musikerin. Wie kann Musik bei Demenz unterstützen/helfen?

Dr. Sarah Straub: Musik ist ein wahrer Herzensöffner – auch für Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz. Musik, die uns im Leben etwas bedeutet hat, die mit besonderen Ereignissen verknüpft ist oder die wir oft und gerne gehört haben, ist in unserem Gehirn besonders tief und komplex verankert. Eine Demenzerkrankung kommt an diese Bereiche meist nicht heran.

Wir alle kennen die Beispiele: Menschen, die kaum noch mit ihrer Umwelt kommunizieren, wirken plötzlich wacher, lebendiger und glücklicher, sobald ihre Lieblingslieder erklingen. Da singen Betroffene plötzlich textsicher mit, von denen man das nie erwartet hätte. Musik kann – wenn auch nur für einen Moment – einen Zugang zu Erinnerungen ermöglichen, Identität berühren und Biografie anregen. Das ist oft zutiefst bewegend und wirkt beinahe magisch.

Auch im therapeutischen Kontext ist Musik von unschätzbarem Wert: Sie aktiviert, fördert vorhandene Ressourcen, stärkt emotionales Erleben und schafft Wohlbefinden. Musik kann Verbindung schaffen, wo Worte längst fehlen.

Ihr neuestes Buch trägt den Titel „Lebensmut trotz(t) Demenz“.  Eine Quintessenz Ihrerseits: Wie kann Demenz ihren Schrecken verlieren, wie gelingt ein Leben mit Demenz? 

Dr. Sarah Straub: Wir müssen das Thema Demenz nicht nur enttabuisieren, sondern auch normalisieren. Demenz gehört zum Leben dazu. Und da uns bislang wirklich krankheitsmodifizierende oder heilende Therapien fehlen, kann im Grunde jede und jeder von uns später einmal betroffen sein. Ein offener, mutiger und lebensbejahender Umgang mit dieser Erkrankung ist deshalb ein entscheidender Schritt. Eine demenzsensible Welt entsteht, wenn wir Betroffenen wirklich begegnen, ihnen Teilhabe ermöglichen und alles dafür tun, dass es ihnen gut geht – bis zum letzten Atemzug.

Ebenso entscheidend ist, dass wir alle mehr über Demenz wissen. Vorurteile und Angst entstehen dort, wo Wissen fehlt, wo Abstand entsteht und wo Menschen der Begegnung ausweichen. Verständnis wächst erst, wenn wir hinschauen – nicht wegschauen.

Und zuletzt: Betroffene Familien müssen Hilfe annehmen dürfen und sie auch einfordern, wenn sie nicht ausreicht. Niemand sollte diese Aufgabe allein tragen müssen. Ein stabiles Unterstützungsnetzwerk ist elementar, damit Familien aufgefangen werden und selbst gesund bleiben können.

Herzlichen Dank für dieses Interview.

Fotocredit: © Hauke Dressler

Weiterführende Links:

„Lebensmut trotz(t) Demenz – Wie wir Menschen mit Demenz einfühlsam und respektvoll begegnen. Geschichten aus der Praxis“: https://www.penguin.de/buecher/sarah-straub-lebensmut-trotz-t-demenz/paperback/9783466348435

Dr. Sarah Straub: http://www.sarah-straub.de

Deutsche Gesellschaft für frontotemporale Degeneration e. V.: http://www.dgftd.de

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