Mandy Schiefner-Rohs ist Universitätsprofessorin für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Kaiserslautern-Landau. Nach Lehr-, Forschungs- und Leitungstätigkeiten in Basel und Zürich sowie einer Promotion zu kritischer Informations- und Medienkompetenz in München folgte eine Postdoc-Phase an der Universität Duisburg-Essen, bevor Frau Schiefner-Rohs an die RPTU kam.

Frau Prof. Schiefner-Rohs ist Leiterin zahlreicher drittmittelgeförderter Forschungsprojekte und Autorin von Herausgeberbänden und Zeitschriftenartikeln zu Schul- Unterrichts-, Lehrerbildungs- und Hochschulforschung unter der Perspektive von Digitalität. Seit 2023 ist sie Mitherausgeberin der Reihe „Digitalität und Bildung“ im transcript Verlag.

Was sind die größten gesellschaftlichen Veränderungen, die wir durch künstliche Intelligenz spüren?

Prof. Schiefner-Rohs: Künstliche Intelligenz durchzieht unseren Alltag und die aktuelle Gesellschaft in nahezu allen Bereichen – von der Arbeitswelt über die Bildung bis hin zu sozialen Interaktionen.

Besonders prägend ist die Automatisierung von Entscheidungsprozessen, die immer tiefer in unsere Lebensrealitäten eingreift.

Algorithmen beeinflussen zunehmend, welche Informationen wir erhalten, welche Chancen uns eröffnet werden und welche Lernwege uns nahegelegt werden. Diese Entwicklungen haben weitreichende Implikationen für soziale Gerechtigkeit: Wer profitiert von KI und wer bleibt zurück? Während KI viele Prozesse effizienter gestalten kann, stellt sich die zentrale Frage, ob sie auch zur gesellschaftlichen Teilhabe beiträgt oder bestehende Ungleichheiten weiter verstärkt.

Werden wir durch künstliche Intelligenz denk- und lernfauler, ja, sogar dümmer, unkreativer und verlernen grundlegende Techniken?

Prof. Schiefner-Rohs: Diese Sorge ist nicht unbegründet, doch sie greift zu kurz. Lernen verändert sich mit den jeweils vorherrschenden Technologien. Die Einführung der Schrift wurde einst ebenso kritisch betrachtet, denn man fürchtete, sie würde das Gedächtnis schwächen, weil Wissen nicht mehr erinnert, sondern nur noch aufgeschrieben würde. Heute wissen wir: Die Schrift hat den Zugang zu Wissen enorm erweitert. Ähnlich verhält es sich mit KI. Sie verändert unsere kognitiven Routinen. Wir verlassen uns stärker auf externe Speicher (zum Beispiel Suchmaschinen oder KI-gestützte Assistenten) und greifen seltener auf auswendig gelerntes Wissen zurück. Das eröffnet neue Möglichkeiten im ko-kreativen Zusammenspiel mit Maschinen, birgt natürlich aber auch Gefahren:

Kritisches Denken, Quellenbewertung und problemlösendes Denken müssen bewusst gefördert werden, damit wir nicht nur passive Nutzerinnen und Nutzer von Technologien sind, sondern kompetente Gestalterinnen und Gestalter unseres Denkens bleiben.

Wie beeinflusst KI unsere Denk- und Lernstrukturen ganz konkret? Funktioniert unser Gehirn heute anders als zu rein analogen Zeiten?

Prof. Schiefner-Rohs: Ich bin nun keine Neurobiologin, sondern Erziehungswissenschaftlerin, daher kann ich zur Funktionsweise des Gehirns nicht viel Tiefgreifendes sagen. Die Annahme allerdings, dass unser Gehirn heute „anders funktioniert“, weil wir KI und digitale Technologien nutzen, basiert häufig auf einem verkürzten neurobiologischen Verständnis von Lernen. Neurobiologische Ansätze suggerieren oft, dass sich kognitive Prozesse direkt aus neuronalen Veränderungen ableiten lassen – etwa, dass sich unser Gehirn durch den Gebrauch digitaler Technologien strukturell verändert und dadurch Denk- und Lernprozesse auf fundamentale Weise umgestaltet werden. Diese Perspektive ist jedoch insofern problematisch, weil sie Lernen auf neuronale Mechanismen reduziert und gesellschaftliche, kulturelle und pädagogische Dimensionen vernachlässigt werden.

So ist Lernen kein rein biologischer Vorgang, sondern immer in soziale und kulturelle Kontexte eingebettet. Die Art und Weise, wie wir mit KI interagieren, wird daher nicht nur von neuronalen Anpassungen bestimmt, sondern vor allem durch Bildungssysteme, gesellschaftliche Normen und technologische Machtstrukturen. Beispielsweise verändert sich nicht unser Gehirn „an sich“, sondern es verändern sich unsere Gewohnheiten und Praktiken im Umgang mit Wissen. Wir lagern Informationen eher aus, verlassen uns auf digitale Assistenten und navigieren in einer datengetriebenen Umwelt.

Die eigentlich kritische Frage ist daher, wie sich unsere Lern- und Denkprozesse durch den Einfluss von KI verändern und welche gesellschaftlichen Implikationen dies hat.

Denn wir sollten KI als eine von vielen kulturellen Technologien verstehen, die nicht per se unsere kognitiven Fähigkeiten mindert oder fördert, sondern deren Auswirkungen immer davon abhängen, wie wir sie in Bildungsprozesse integrieren.

Wie kann/sollte KI Ihrer Meinung nach optimalerweise bei Lernprozessen eingesetzt werden?

Prof. Schiefner-Rohs: KI hat das Potenzial, individualisierte Lernprozesse zu unterstützen oder als persönlicher Coach zur Verfügung zu stehen, aber sie darf nicht zur Automatisierung von Bildung führen, die nur auf Effizienzsteigerung abzielt. In vielen EdTech-Anwendungen zeigt sich leider ein reduktionistisches Verständnis von Lernen:

Wissen wird als abrufbare Information behandelt, anstatt als dynamischer, diskursiver Prozess.

Lernende brauchen aber nicht nur maßgeschneiderte Inhalte, sondern auch Räume für Dialog, Irritation und Perspektivenwechsel – Aspekte, die in KI-gestützten Lernumgebungen oft vernachlässigt werden. Die zentrale Frage lautet daher eher: Wie können wir KI so gestalten, dass sie pädagogisch sinnvoll eingesetzt wird? Eine sinnvolle Nutzung könnte dann darin bestehen, Routineaufgaben auszulagern, um Lehrenden mehr Zeit für individuelle Begleitung und soziale Interaktion zu ermöglichen. In pädagogischen Settings müsste allerdings nochmals überlegt werden, was denn wirklich solche Routineaufgaben sind, denn es geht ja um die Bildung und Erziehung aller. Gleichzeitig müssen wir aber sicherstellen, dass sich Lernende nicht auf eine „unsichtbare Hand“ verlassen, die ihnen Entscheidungen abnimmt, sondern vielmehr zum kritischen Hinterfragen und Gestalten dieser Technologien befähigt werden. Medienkompetenz wird dafür notwendiger denn je. 

Wie kann eine Balance zwischen technologischem Fortschritt und menschlicher Selbstständigkeit und Kreativität gefunden werden?

Prof. Schiefner-Rohs: Eine echte Balance kann nur erreicht werden, wenn wir Technologie nicht als neutral oder alternativlos betrachten, sondern aktiv hinterfragen, wie sie gestaltet und eingesetzt wird, und dies auch als Fragen von Macht und Verantwortung adressieren. Wer entscheidet, welche KI-Systeme in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz oder im Alltag genutzt werden? Welche Werte und Annahmen stecken in diesen Technologien? KI kann kreative Prozesse bereichern – etwa durch Unterstützung bei der Ideenfindung oder der Verarbeitung komplexer Daten. Aber sie kann auch zu standardisierten, algorithmisierten Lern- und Arbeitsprozessen führen, die menschliche Autonomie untergraben.

Eine kritische Auseinandersetzung mit KI sollte daher immer auch eine Frage nach Machtstrukturen sein.

Wer kontrolliert die Technologie, und wem dient sie? Bildung sollte darauf abzielen, möglichst alle Menschen zu befähigen, diese Entwicklungen mitzugestalten, anstatt sich ihnen nur anzupassen.

Welches Potenzial/Chancen sehen Sie in Bezug auf den Einsatz von KI in Pflegeheimen – seitens der Bewohnerinnen und Bewohner? Und seitens des Pflegepersonals?

Prof. Schiefner-Rohs: Der Einsatz von KI in Pflegeheimen bietet sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Für Bewohnerinnen und Bewohner kann KI unterstützend wirken, indem sie soziale Teilhabe erleichtert oder den Alltag individuell anpasst. Ein Beispiel hierfür sind sprachgesteuerte Assistenzsysteme wie KI-gestützte Sprachassistenten, die Seniorinnen und Senioren an die Einnahme von Medikamenten erinnern, biografische Erinnerungen abrufen oder Gespräche anregen können; insbesondere für Menschen mit kognitiven Einschränkungen wie Demenz kann dies unterstützend wirken. In Japan gibt es bereits erste Versuche, KI-gestützte Roboterhunde in Pflegeheimen einzusetzen, um emotionale Bindung und kognitive Aktivierung zu fördern.

Auch für das Pflegepersonal können KI-basierte Systeme Entlastung bringen. Intelligente Sensormatten oder tragbare Notfallsysteme erkennen beispielsweise, wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner gestürzt ist, und alarmieren das Personal automatisch. Dies kann helfen, Verletzungen zu vermeiden und die Reaktionszeit zu verkürzen. Zudem können KI-gestützte Systeme administrative Aufgaben wie die Pflegedokumentation automatisieren, sodass Pflegekräfte mehr Zeit für die direkte Arbeit mit den Menschen haben. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass der Einsatz von Technologie nicht zur weiteren Rationalisierung der Pflege führt und gerade Gesundheitsdaten sensibel behandelt werden. Pflege ist mehr als Versorgung – sie ist Beziehung, menschliche Nähe und Fürsorge.

Wenn KI lediglich zur Effizienzsteigerung eingesetzt wird, besteht die Gefahr, dass menschliche Interaktion weiter reduziert wird, anstatt sie durch technologische Unterstützung qualitativ zu verbessern.

Die entscheidende Frage ist daher nicht nur, was KI kann, sondern unter welchen Bedingungen sie ethisch vertretbar und im Sinne der Pflegebedürftigen genutzt wird.

Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

Fotocredit: Lars Kilian


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