Unter der Leitung von Prof. Ulrich Weinberg wird an der 2007 gegründeten HPI School of Design Thinking ein neuartiger, europaweit einzigartiger Zusatzstudiengang im “Design Thinking” angeboten. Nach dem Vorbild der “d.school” an der Stanford University (Kalifornien) vermittelt die akademische Zusatzausbildung Studierenden höherer Semester aus praktisch allen Disziplinen die Fähigkeit, in multidisziplinären Teams vernetzt zu arbeiten und benutzerfreundliche Produkte und Dienstleistungen für alle Lebensbereiche zu entwickeln. Zudem wird Design Thinking auch für strategische Transformationsprozesse angewendet.

In Zusammenarbeit mit dem HPI wurden in den letzten Jahren Design Thinking Ausbildungsgänge in China, Malaysia, Schweden und Südafrika etabliert. Weitere Informationen unter https://hpi.de.

Ein kurzer Abriss: Durch was zeichnen sich die Methoden Design Thinking, Scrum und Kanban aus? Wo liegen Unterschiede?

Prof. Ulrich Weinberg: Wir befinden uns in Zeiten stark fortschreitender Digitalisierung und eines durch Digitalisierungsaspekte ausgelösten großen gesellschaftlichen Wandels. Die Methoden Scrum und Kanban sowie das darüber hinaus gehende bzw. weiter gefasste Design Thinking zeichnet aus, dass agiles Denken und Arbeiten gefördert werden. Während Scrum die Basis in der agilen, Softwareentwicklung und ihrer permanenten, nutzergetriebenen Weiterentwicklung hin zu immer besseren, passenderen Softwareversionen (ohne ein Endprodukt zu erreichen) hat, bezieht Kanban die Grundlage aus der produktionsnahen Prozesssteuerung bzw. aus physischen Produktionsabläufen und deren Strukturierung sowie Optimierung und zur besseren Abstimmung unter allen Beteiligten. Für mich ist Design Thinking der holistische Ansatz, mit dem Blick auf Denk- und Arbeitsprozesse und dem Bewusstmachen der momentanen Arbeits- und Organisationsstruktur. Design Thinking fokussiert dabei auf drei Kernelemente:

  1. Die Kollaboration: Kompetitives Arbeiten wird durch das Zusammenarbeiten in Teams ersetzt. Die Teams haben eine Gruppengröße von 4-6 und sind bunt gemischt – Diversität in jeder Hinsicht ist gewünscht. Auch die Teams arbeiten nicht gegeneinander sondern kooperieren durch regelmäßigen Austausch. Wir nennen das den „Team-of-Teams“-Modus.
  2. Der Prozess: Lineare Denk- und Arbeitsprozesse, die im analogen Zeitalter wunderbar funktioniert haben, sind in digitalen, immer stärker vernetzten Zeiten mehr oder weniger obsolet. „Endproduktdenken“ muss mehr und mehr durch „Arbeiten mit Prototypen & Denken in Versionen“ abgelöst werden (Erlauben von Fehlern und Schleifen). Dabei sollte die Fokussierung im Arbeitsprozess nicht (nur) auf das Machbare, sondern auf das von Seiten der Beteiligten Wünschbare abzielen.
  3. Der Raum: In Zeiten der immer stärker werdenden Agilität bedarf es physischer Räume, die Kooperationen/Kollaborationen und prototypisches Arbeiten unterstützen und Teilnehmern Möglichkeiten bieten, neue Erfahrungen zu sammeln. Der physische Raum kann dabei durchaus auch in den virtuellen erweitert werden.

Diese drei Kernelemente führen dazu, dass Design Thinking vom Ansatz her deutlich breiter aufgestellt ist als Scrum und Kanban. Design Thinking stellt die kulturellen Aspekte des Zusammenarbeitens und Miteinanders ins Zentrum und gar nicht so sehr die Methode.

Was macht Design Thinking für Unternehmen und Organisationen (die ja oft selbst im eigenen Hause auf großes Expertenwissen zurückgreifen können) so interessant bzw. wie unterstützen Sie Unternehmen konkret?

Prof. Ulrich Weinberg: In meinem Buch „Network Thinking“ verwende ich die allen bekannte Enzyklpädie „Brockhaus“ als einfache visuelle Metapher, um den fundamentalen Wandel zu beschreiben, den wir gerade erleben. Die 20 Bände, alle einzeln von A-Z nebeneinander aufgereiht, sind ein schönes Beispiel für die alte Organisationsstruktur, die heute zwar immer noch dominiert und 95 % der Organisationen ausmacht, in den nächsten Jahren aber zunehmend von vernetzten Strukturmodellen abgelöst wird. Wie der Brockhaus durch die vernetzte Form der Wissensaggregation (Wikipedia, Google, etc.) abgelöst wurde, so wird durch eine immer stärkere Verzahnung und Digitalisierung von Arbeitsprozessen sich auch das Organisationsmodell von Unternehmen massiv verändern. Noch gibt es keine langjährig erprobten Strukturmodelle, an denen man sich orientieren könnte. Hier ist viel Ausprobieren gefragt. Design Thinking ist ein sehr brauchbares Instrumentarium für Unternehmen und Organisationen, sich auf die wesentliche Dinge zu konzentrieren, sich auf den Weg zu machen von einer trennenden Silo-Denke und stark hierarchisch angelegten, kompetitiven Strukturen hin zu einem immer stärker vernetzten und auf Kollaboration setzenden Miteinander, das den Menschen ins Zentrum stellt. 

Viele Unternehmen sind mittlerweile massiv auf der Suche nach zukunftsfähigen Hilfsmitteln. Sie stehen heutzutage besonders unter Druck, weil sie ihre Business-Modelle bedroht sehen und ihren Apparat umbauen müssen.

Kleine Start-ups sind in der Regel im Design-Thinking-Modus unterwegs und arbeiten bereits erfolgreich in einem sehr schnellen, hochgradig verknüpften, kollaborativen Modus. 

Konkret helfen wir beispielsweise Bosch beim Transformationsprozess. Zum einen unterstützen wir Bosch bei der Entwicklung neuer, nichtlinearer, iterativer Arbeitsprozesse, die tradierte Modelle ablösen sollen (gerade bei der Technologieentwicklung, die dort viel mit Hardware zu tun hat). Wenn immer mehr Software auch traditionelle Hardware durchdringt, müssen Produktstrategien neu aufgesetzt werden. Zum anderen unterstützen wir beim Weitergeben dieser neuen Denkansätze im Unternehmen (beispielsweise durch Zertifizierung von Mitarbeitern als Design Thinking Coaches). Zudem leisten wir Hilfe bei der Weiterentwicklung von Arbeitsplätzen und Arbeitsorten sowie der gesamten Organisationsstruktur, die sich gerade in allen großen Bereichen von Bosch wandelt. Wir sind bei allen Wandlungsprozessen Begleiter und Hilfesteller im Hintergrund. Wir sehen uns als Design-Thinking-Ausbildungseinrichtung – als „Enabler“ (Möglichmacher) – und gar nicht so sehr als Berater. 

Ist Design Thinking auf bestimmte Branchen beschränkt oder kann diese Methode überall Anwendung finden? 

Prof. Ulrich Weinberg: Design Thinking ist nicht auf bestimmte Branchen beschränkt. Wir setzen im Design-Thinking-Modus auf intrinsischer Motivation von Menschen. Und diese ist global vorhanden und branchenunabhängig. Zudem ist die intrinsische Motivation besser als die extrinsische Motivation, die mit Zuckerbrot und Peitsche wie Notenvergabe oder Bonuszahlungen die Zusammenarbeit in Teams untergräbt.

Wir haben in unserem, auf Projekt-Arbeit konzentrierten Studium unser Projektportfolio sehr breit aufgestellt, um eine möglichst große Bandbreite an Branchen abzudecken. Ob Logistik, Transport, Mobilität, Gesundheit, Sicherheit, etc., unsere 120 Studierenden aus 70 Disziplinen, 60 Hochschulen und 20 Nationen arbeiten jede Semester an einer Vielzahl von Projekten, nicht in einem tradierten Curriculum. Diese Projekte kommen aus dem realen Leben, von Organisationen und Unternehmen, und wir haben bislang noch keine Branche entdeckt, in der Design Thinking keinen Sinn ergeben würde oder nicht funktioniert hätte. Denn alle sind von digitalen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen betroffen. Jede Organisation, jedes Unternehmen muss sich auf den eigentlichen Auftrag konzentrieren. Nämlich, ein Produkt oder einen Service für/an einen Menschen zu liefern und den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und nicht, weil es für das Unternehmen gerade machbar ist.  

Aus Ihrer Sicht: Ist Design Thinking auch auf die Pflegebranche übertragbar? Denn auch in der Pflegebranche finden immer wieder tiefgreifenden Change-Prozesse statt. Zum Beispiel werden Pflegeheime in betreute Wohngruppen umgenutzt und somit verändert sich das Arbeitsumfeld für die Mitarbeiter. Das stellt vor allem die Mitarbeiter vor ganz neue Herausforderungen. 

Prof. Ulrich Weinberg: Wie eben ausgeführt: Ein klares Ja! Design Thinking ist übertragbar.

Wie kann Changemanagement in der Pflegebranche gelingen? Und wie hilft Design Thinking dabei?

Was das Gelingen betrifft, komme ich immer wieder auf die einfachen drei Kernelemente des Design Thinking zurück, die ich in der ersten Frage skizziert habe, und die überhaupt keine Raketenwissenschaft und im Grunde ganz simpel sind. Allerdings müssen diese Punkte ernsthaft betrieben und gelebt werden. Denn so führen sie zu dem notwendigen Kulturwandel, den Unternehmen und Organisationen gerade vollziehen müssen. 

Auch in der Pflegebranche gilt, dass dafür gesorgt werden muss, dass die Kollaboration zwischen den unterschiedlichen Gewerken deutlich an Geschwindigkeit und Intensität zunimmt.

Zudem ist es wichtig zu überlegen, welche Belohnungs-modelle zum Einsatz kommen. Bei Bosch wurde beispielsweise der individuelle Bonus und auch die individuelle Zielvereinbarung abgeschafft, da dieser kompetitives und nicht kollaboratives Verhalten fördert. 

Außerdem muss auch, gerade in der Pflegebranche, der Mensch und die gemeinsame Aktivität wieder viel mehr ins Zentrum geholt werden. Es bringt nichts, sich in irgendwelchen Softwareprogrammen zu verlieren, die suggerieren, etwas für den Menschen zu tun, aber zu viel Zeit verbrauchen, die man eigentlich für die Pflege selbst bräuchte. 

Zu oft treffe ich noch auf Anwendungsoftware, die sozusagen noch im Brockhaus-Modus entwickelt worden ist – bisher analoge Arbeitsprinzipien und -aktivitäten werden einfach nur zu digitalisiert, ohne den Blick auf die sich ändernde Gesamtstruktur zu werfen. Es ist eminent wichtig, die Vernetzungsqualitäten zwischen den Mitarbeitern der Pflegebranche untereinander und auch zwischen den Pflegebedürftigen bzw. Bewohnern von Pflegeheimen und den Mitarbeitern zu intensivieren. Denn es geht immer um die Menschen selbst. Das ist in manchen Köpfen noch nicht angekommen. Hier werden wir in den kommenden Jahren sicher noch viele Technologien kommen und gehen sehen, weil es immer wieder eine nächste, bessere gibt, die die Zusammenarbeit noch besser intensiviert.

Darüber hinaus erlaubt der Team-of-Teams-Modus ein sehr hohes Maß an Transparenz. Der Austausch der Teams untereinander und das gegenseitige Vermitteln und Teilen von wichtigen Erfahrungen und entscheidendem Wissen sind hochrelevant. Oft kommt das Argument: dafür ist keine Zeit. Wir halten es allerdings für essenziell, sich, und sei es nur ganz kurz aber regelmäßig, zusammenzufinden und das in entsprechenden Teamräumen zu ermöglichen.

Wir geben daher die Empfehlung, sich die Räume, in denen Pflegeteams zusammenarbeiten oder Pflegende auf Pflegeheimbewohner treffen, unter dem Aspekt anzuschauen: welche Komponenten fehlen noch für eine intensivere Zusammenarbeit und ein besseres Miteinander?

Das kann eine neue Technologie sein, eine neue App, ein neues, physisches Gerät oder eine künstliche Intelligenz (zum Beispiel in Form einer Amazon-Alexa) – aber es muss eben Sinn ergeben und den Beteiligten wirklich im täglichen Umgang helfen.

Hier kann Design Thinking Anstöße geben, sich auf Neues einzulassen, auszuprobieren und auszutarieren. Zum Beispiel kann ich mir gut vorstellen, dass es sehr hilfreich ist, ein kleines, ganz einfaches dreidimensionales Modell der Station bzw. des Bereiches zu bauen, in dem man arbeitet. Hier muss nicht jeder Prozess oder jedes Bett dargestellt sein, aber es hilft beim Denkprozess und der Kommunikation untereinander enorm – von Team zu Team und innerhalb des Teams – schneller zu Entscheidungen zu gelangen.

Herzlichen Dank für dieses ausführliche Gespräch!

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