Mia Raben, geboren 1977, arbeitete als freie Korrespondentin in Warschau, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und lebt heute als Journalistin und Autorin mit ihrer Familie in Hamburg. Sie hat eine polnische Mutter und einen deutschen Vater. „Unter Dojczen“ ist ihr erster Roman.
Was war Ihre Motivation, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Mia Raben: Polnische Altenpflegerinnen haben mich immer als Randerscheinung begleitet, zuerst als Freundinnen meiner Mutter, die in Polen lebten, aber zum Arbeiten nach Deutschland fahren mussten. Später als Pflegerinnen meines Großvaters. Als Jugendliche und heranwachsende Frau habe ich mich nie gefragt, warum diese polnischen Frauen ihre Kinder wochenlang oder monatelang allein lassen müssen, um Geld zu verdienen, während das in Deutschland niemand tun muss. Es erschien mir irgendwie natürlich. Nach dem Motto: So ist das eben. Ich denke, dass es vielen Menschen in Deutschland auch heute noch so geht. Dabei ist es doch, wenn man genauer hinschaut, ziemlich ungerecht.
Aber die Duldsamkeit, Leidensfähigkeit und Aufopferungsbereitschaft polnischer Menschen ist historisch bedingt sehr ausgeprägt. Davon profitieren viele ältere, pflegebedürftige, einsame Menschen in Deutschland.
Das wollte ich sichtbar machen.
Was bedeutet der Titel des Buches?
Mia Raben: Der Titel drückt für mich unterschiedliche Aspekte eines komplizierten Verhältnisses aus: Vor allem die Asymmetrie, die immer noch zwischen Polen und Deutschland herrscht. Gesine Schwan hat dieses Wort als Koordinatorin für die deutsch-polnische Zusammenarbeit kurz nach dem Beitritt Polens zur EU geprägt: Asymmetrie. Die Deutschen sind reicher und mächtiger, und manchmal macht es den Anschein, als fühlten sie, denen man die Demokratie ja auferlegt hat, nach so kurzer Übungszeit schon als die besseren Demokraten. Man belehrt eben gern andere, das war schon immer so. Aus polnischer Sicht kann das ganz schön nerven. Auch wenn es mit der Demokratie in Polen noch holprig läuft, so waren es ja immer die nach Freiheit strebenden Polen, die ihre Rechte gegenüber Mächtigeren immer wieder eingefordert haben.
Diese Asymmetrie bezieht sich natürlich auch auf die konkrete Pflegesituation.
Aber sie kann sich auch umdrehen. UNTER DOJCZEN zeigt an, wie es ist unter Deutschen zu arbeiten. Die Schreibweise des Wortes „Dojczen“ weist darauf hin, dass Polinnen und Polen ein anderes Bild der Deutschen haben, als die Deutschen von sich selbst haben. Und dieses Bild sollten wir uns genauer ansehen.
Sie selbst haben eine polnische Mutter und einen deutschen Vater: Haben Sie einen persönlichen Bezug zum Thema Ihres Buches?
Mia Raben: Das deutsch-polnische Verhältnis hat mich seit meiner Kindheit extrem geprägt.
Als Kind einer Polin und eines Deutschen sollte man sehr früh lernen, Ambivalenzen auszuhalten. Auf der Suche nach meiner eigenen polnisch-deutschen oder deutsch-polnischen Identität bin ich hin und her geworfen worden.
Ich habe darüber auf der Seite 54books einen Essay geschrieben. Der Roman ist auch ein Stück weit Zeugnis dieser Suche.
Was ist das Besondere an der Beziehung zwischen Jola und Uschi?
Mia Raben: Uschi ist herrisch und bedürftig und trifft auf Jola, die freigiebig mit Zuneigung, aber nach den ausbeuterischen Erfahrungen auch vorsichtig geworden ist. Die beiden verstehen sich so gut, weil sie im Grunde voller Energie stecken. Sie wollen schöne Dinge erleben und das Leben genießen. Doch das Gepäck ihrer Vergangenheit, ihrer Nöte und Sehnsüchte macht es ihnen manchmal schwer.
Wieviel Nähe eine gestandene Dame wie Uschi, die nun von einer fremden Frau in ihrem privaten Umfeld umsorgt wird, überhaupt zulassen kann, darum geht es zwischen den beiden.
Ich fand es auch interessant, Uschi, die als Kind aus Ostpreußen vertrieben worden ist, als Figur zu zeigen, deren preußische Art auch Klarheit und Verbindlichkeit mitbringt. Das ist etwas, das Jola sehr zu schätzen weiß. Aber dann kommen bei Uschi immer wieder diese Momente, die Jola zeigen, dass sie tief drinnen doch davon ausgeht, dass Jola weniger klug ist als sie, dass sie weniger gebildet ist.
Was wünschen Sie sich, was möchten Sie mit Ihrer Geschichte erreichen?
Mia Raben: Uschi ist besitzergreifend und eifersüchtig, was auch typisch ist für diese Pflegesituation, gerade, wenn osteuropäische Menschen in privaten Haushalten arbeiten. Nach dem Motto: So, du gehörst jetzt mir und nun mäh auch noch den Rasen und bügele die Hemden und koch für alle und so weiter. Fast wie eine Haussklavin.
Da kommen sehr alte und leider ziemlich unschöne Stereotype zum Tragen, von denen wir oft meinen, dass wir sie längst abgelegt hätten. Haben wir aber nicht.
Hätten wir vielleicht gern. Aber dazu muss man sie sich ja erst einmal schmerzlich bewusst machen. Vielleicht kann ja mein Roman ein bisschen dazu beitragen, dass man sich das in der deutschen Gesellschaft mal etwas genauer anschaut. Ich bin in diesem Zusammenhang sehr gespannt auf das Deutsch-Polnische Haus, das in Berlin entstehen soll, wo die komplexe Geschichte beleuchtet wird und ein Ort der Begegnung geschaffen werden soll.
Was sollte sich in Deutschland Ihrer Meinung nach in Bezug auf den Einsatz von ausländischen (speziell polnischen) Pflegekräften ändern/verbessern?
Mia Raben: Da fragen Sie am besten die bestens informierten, polnischen Juristinnen vom DGB aus der Abteilung „faire mobilität“. Die wissen das wirklich am besten. Soviel ich weiß, wird in der häuslichen Altenpflege das deutsche Arbeitsrecht systematisch ausgehebelt und viele, viele sehr gierige und ausgefuchste Menschen verdienen an der Arbeit der osteuropäischen Frauen fröhlich mit. In eher männlich besetzten Branchen wie Fleischindustrie und Bau und Logistik ist das ja ganz ähnlich. Die Politik weiß das ganz genau. Hat sie keine besseren Ideen? Ich weiß es nicht. Aber es gibt Menschen, die sich auskennen, die bessere Lösungen wüssten. Diese Expertinnen und Experten muss man massiv unterstützen und mit allem ausstatten, was sie brauchen, um den osteuropäischen Arbeitskräften wirklich zu helfen. Da geht es einfach um Prioritäten. Um gezieltes Wegsehen und Ausblenden.
Aus meiner Sicht ist die aktuelle Situation ein struktureller, geduldeter Dauerskandal.
Ich habe keine Lösungen für die Not in der Pflege. Ich möchte nur, dass sie menschenwürdig für alle Beteiligten geregelt wird. Warum nicht das verpflichtete Soziale Jahr einführen? Ach, ich bin keine Expertin. Aber es gibt so viele Wege, die man alternativ einschlagen könnte.
Was können in- und ausländische Pflegekräfte aus Ihrem Buch mitnehmen/lernen?
Mia Raben: Ich denke, dass Jola eine Figur ist, die andere Pflegekräfte vielleicht empowern kann. Zum Beispiel dazu, Gruppen zu gründen, sich zu vernetzen. Jola schaut immer die YouTube-Videos einer anderen Altenpflegerin. Die geben ihr Kraft. Sie zeigt den anderen da draußen mit ihrem Schritt in die Selbstständigkeit auch: Informiert euch über eure Rechte und fordert sie ein. Das machen zum Glück immer mehr Pflegekräfte in Deutschland. Aber viele Polinnen, die nicht so gut Deutsch sprechen und wirklich viele andere Sorgen haben, die sind wie gefangen in ihrem Teufelskreis zwischen Geld verdienen und pendeln, womöglich zu Hause noch mit einem trinkenden Mann an der Backe, der Schulden hat oder einem Kind, das nicht ins Leben findet …
Wichtig ist einfach, dass man sich Gleichgesinnte sucht und Hilfe holt.
Und welche Botschaft haben Sie an die Pflegebedürftigen und Ihre Angehörigen?
Mia Raben: Es ist schon wichtig, dass man sich vorher informiert, welcher Stundenlohn am Ende bei der polnischen Betreuerin wirklich ankommt. Viele Familien zahlen 20 Euro die Stunde, und die Polin bekommt am Ende 6 Euro. Das geht so nicht, finde ich.
Und auch die Erwartung, dass eine Frau 24 Stunden und sieben Tage die Woche verfügbar ist, das ist Sklaverei.
Das gibt es gar nicht. Auf solche Agenturen darf man überhaupt nicht reagieren, die so etwas versprechen.
Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.
Porträtfoto: © Kathrin Spirk
Buchinformation:
Das gebundene, 224-seitige Buch „Unter Dojczen“ ist am 22. Juli 2024 im Kjona Verlag erschienen und wird auch als E-Book angeboten: https://www.kjona.eco/products/mia-raben-unter-dojczen