Die Bürgergemeinschaft Oberried nimmt sich der vielfältigen sozialen Aufgaben und Herausforderungen an und organisiert Unterstützung hilfsbedürftiger Einwohnerinnen und Einwohner vorrangig in der Gemeinde Oberried. Wir sprachen mit Franz-Josef Winterhalter, 1. Vorsitzender der Bürgergemeinschaft Oberried (www.buergergemeinschaft-oberried.de).

Warum und wie entstand die Idee, eine Bürgergemeinschaft ins Leben zu rufen?

Franz-Josef Winterhalter: Ich war 24 Jahre als Bürgermeister hier in der Gemeinde Oberried tätig. Während dieser Zeit erlebte ich, dass es immer wieder vorkam, dass ältere Menschen aus der Gemeinde Oberried wegziehen mussten.

Sie taten das sehr ungern, doch es blieb häufig keine Alternative, da es an entsprechenden Versorgungs- und Betreuungsangeboten für Seniorinnen und Senioren fehlte.

Unsere Gemeinde zählt 3.000 Einwohnerinnen und Einwohner, da ist es nicht so einfach möglich, ein großes Pflegeheim einzurichten. Es war schnell klar, wenn wir etwas bewegen wollen, dürfen wir nicht auf Organisationen von außen warten, sondern wir müssen die Ärmel hochkrempeln und das Ganze in die eigenen Hände nehmen und sehen, was wir gemeinsam hinbekommen. Das war der Beginn unserer Bürgergemeinschaft. 2015 wurde sie mit 70 Mitgliedern gegründet (heute zählt sie über 400). Zunächst wollten wir das soziale Miteinander und die Für- und Mitsorge für die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger – aber auch darüber hinaus – aktivieren. Im ersten Schritt haben wir Qualifizierungskurse für zertifizierte Alltagsbegleiter/innen in der Häuslichkeit ins Leben gerufen (mind. 160 Unterrichtsstunden). An diesen Qualifizierungsmaßnahmen nahmen sofort 20 Frauen und 2 Männer teil. Damit war der Grundstein gelegt, um in unserer Gemeinde erste häusliche Unterstützungsangebote zur Verfügung stellen zu können. Um die Leistungen ausweiten zu können, war es im Anschluss wichtig, für hilfe- und pflegebedürftige Menschen eine zentrale Örtlichkeit innerhalb der Gemeinde zu schaffen. Es entstand der eng in die Dorfgemeinschaft eingebettete Ursulinenhof, der im Januar 2020 bezugsfertig wurde und eine Tagespflegeeinrichtung und seit Februar 2020 auch eine Pflege-WG beherbergt.

Wie funktioniert die Bürgergemeinschaft? Wie ist sie organisiert?

Franz-Josef Winterhalter: Die Bürgergemeinschaft ist ein gemeinnütziger Verein, der seinen Schwerpunkt hier in der Gemeinde Oberried hat. Wir haben einen ehrenamtlichen Vorstand, der aus bis zu zehn Personen besteht und das Management und die Verantwortung übernimmt. Der Vorstand managt und organisiert alles, was üblicherweise im Rahmen der sozialen Dienste machbar und möglich erscheint und auch machbar ist. Darüber hinaus haben wir, wie bereits eben erwähnt, zwei Zweckbetriebe im Ursulinenhof innerhalb der Organisation. Zum einen ist das die Tagespflege mit 16 Plätzen, die wir selbst als Träger führen. Insgesamt betreuen wir dort (zeitlich versetzt und wechselnd) 60 Personen. Eine Hälfte kommt dabei aus der Gemeinde Oberried, die andere Hälfte aus den direkt umliegenden Kommunen. Zum anderen gibt es eine Pflege-WG, in der wir den Betreuungsdienst stellen und die elf pflege- und betreuungsbedürftigen Personen aller Pflegegrade ein Zuhause bietet – mit 24 Stunden Betreuung bis zum Tod.

In der Tagespflege und in der Pflege-WG beschäftigen wir insgesamt 30 versicherungspflichtige Angestellte. Daneben engagiert sich ein Netzwerk aus etwa 50 ehren- und halbehrenamtlichen Helferinnen und Helfern – vornehmlich aus der Gemeinde Oberried – in der Tagespflege, in der Pflege-WG und bei weiteren Unterstützungsangeboten.

Die Aufgaben sind zunehmend gewachsen, und so bringt sich zusätzlich unser ehemaliges Vorstandsmitglied Lucia Eitenbichler nun hauptamtlich als besondere Vertreterin nach §30 BGB in die Bürgergemeinschaft ein.

Wie finanziert sich die Bürgergemeinschaft?

Franz-Josef Winterhalter: Im Kern finanzieren wir uns im ideellen Bereich aus Beiträgen und Spenden. Im Bereich der Dienste – sprich Tagespflege und Assistenzdienst in der WG – finanzieren wir uns über Entgelte der Pflegekassen. Wir haben, was die Tagespflege anbelangt, eine Pflegesatzvereinbarung mit der Pflegekasse. Und schlussendlich finanzieren wir uns über die Eigenanteile der Nutzerinnen und Nutzer.

An wen richten sich die Angebote der Bürgergemeinschaft?

Franz-Josef Winterhalter: Die Angebote richten sich schwerpunktmäßig an die ältere Bevölkerung vor Ort für eine erleichterte Betreuung. Wir vertreten die Philosophie, dass die klassische Pflege nicht mehr ausreicht, um dem demografischen und gesellschaftlichen Wandel gerecht zu werden. Denn alle Bemühungen, ob es um die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte oder um den Bau neuer Pflegeheime geht, konnten bis dato und können auch zukünftig das Problem nicht lösen, da die Schere zwischen zunehmendem Bedarf (Stichwort: Babyboomer, die in Rente gehen) und dem Mangel an Fachkräften immer weiter auseinandergeht. Wir sind der Auffassung, dass ein Paradigmenwechsel erfolgen muss.

Neben der institutionalisierten Pflege, die selbstverständlich nach wie vor ihre Berechtigung hat, muss eine kooperative und zivilgesellschaftlich gestützte Pflege ausgebaut werden.

Die Eigenkräfte der Gesellschaft müssen mobilisiert werden. Die Menschen müssen befähigt und ermutigt werden, selbst aktiv zu werden, um all die Herausforderungen zu bewältigen.

Und welche verschiedenen Angebote stehen den Bürgerinnen und Bürgern konkret zur Verfügung?

Franz-Josef Winterhalter: Neben dem Ursulinenhof mit seinen Angeboten der Tagespflege und der Pflege-WG sind zum Beispiel unsere Alltagsbegleiterinnen in der Gemeinde Oberried unterwegs, um die älteren Menschen in ihrem Zuhause zu unterstützen. Seit Beginn des Ukrainekriegs stehen wir auch den Flüchtlingen intensiv zur Seite. So wurden sowohl von pensionierten als auch von aktiven Lehrerinnen und Lehrern sowie von anderen Pädagogik-affinen Personen ehrenamtlich Deutschkurse organisiert und auf die Beine gestellt. In unserer Gemeinde ist es gelungen, etwa 50 ukrainische Flüchtlinge – mittlerweile kann man schon sagen Mitbürgerinnen und Mitbürger – in Oberried zu integrieren. Des Weiteren organisieren wir gerade ein vom Land Baden-Württemberg und der EU bezuschusstes E-Lastenradprojekt mit eigener Solaranlage für junge Familien, das für alle kostenfrei nutzbar sein wird.

Wie werden die unterschiedlichen Angebote angenommen?

Franz-Josef Winterhalter: Tatsächlich ist die Nachfrage größer als die Angebote, die wir bedienen können. Das betrifft zum Beispiel die Unterstützung in den Haushalten. Hier könnten wir, sofern wir die Kapazitäten hätten, das Drei- bis Vierfache leisten bzw. abdecken. Das zeigt aber auch, welche Not in diesem Bereich überall herrscht. Die Pflege-WG ist seit Eröffnung voll ausgebucht. Und auch die Tagespflege ist seit dem 2. Monat ihres Bestehens komplett gefüllt und wird von Gästen aus Oberried und den Nachbargemeinden im Dreisamtal rege genutzt. Interessanterweise ist die Tagespflege im benachbarten Kirchzarten nicht vollständig belegt, obwohl die Gemeinde dreimal größer ist als Oberried.

Es ist offensichtlich, dass der bürgerliche Gemeinschaftsgedanke in unserer Gemeinde so viel Sympathie und Zuspruch schafft, dass Oberried die erste Wahl darstellt.

Das ermutigt uns natürlich enorm, auf diesem Weg weiter zu gehen.

Wie sehen die weiteren Pläne denn konkret aus?

Franz-Josef Winterhalter: Ganz aktuell sind wir an einem Forschungsprojekt beteiligt, das durch EU-Mittel gefördert wird. Gemeinsam mit der Landkreisverwaltung bzw. mit dem Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald (hier bin ich ja zurzeit noch als Fraktionsvorsitzender im Kreistag tätig) wollen wir eine Unterstützungsstruktur aufbauen, die es ermöglicht, dass sich Initiativen insbesondere im ländlichen Raum und vor Ort ähnlich wie in Oberried auf den Weg machen. Wir sind ein sehr stark ländlich strukturierter Landkreis mit dem Zentrum Freiburg, wobei Freiburg mit seinen gut 250.000 Einwohnerinnen und Einwohnern nicht dem Landkreis zugehörig ist, sondern eine eigenständige Gebietskörperschaft darstellt. Der die Stadt umgebende Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald selbst hat insgesamt gut 260.000 Einwohnerinnen und Einwohner, jedoch aufgeteilt auf 50 Kommunen, von denen ein Großteil in der Größenordnung von unter 5.000 Einwohnerinnen und Einwohner rangiert, und die tief in den Schwarzwald hineinreichen. Gerade hier ist die Pflegesituation schwieriger als in weniger ländlich und mehr städtisch geprägten Gebieten. Die Erfahrung zeigt, dass wir fast alle im Alter so lange wie möglich gern in unserer gewohnten Umgebung bleiben möchten.

Ich bin der festen Überzeugung, dass man in den Kommunen die Gedanken der Solidarität, der Eigenverantwortlichkeit und an die Menschenwürde älterer Generationen wecken muss und die Menschen dort ermutigen und ertüchtigen sollte, einen neuen, gemeinschaftlichen Weg einzuschlagen.

Täglich erreichen uns Anfragen mit der Bitte um Informationen, wie wir die Strukturen in Oberried etabliert haben. Daraus ist die Idee entstanden, die in Planung befindliche Unterstützungsstruktur im Landkreis zu entwickeln und – so gewünscht – auch auf ganz Baden-Württemberg auszuweiten. Auf dem Pflege-Innovationskongress am 20. September in Stuttgart haben wir dies unserem Sozialminister Manne Lucha vorgestellt.

Wie hat sich das Engagement, das Zusammenleben, der Zusammenhalt, der Austausch zwischen Alt und Jung seit Gründung der Gemeinschaft in der Gemeinde Oberried verändert?

Franz-Josef Winterhalter: Der Gedanke der Solidarität, der oftmals sehr theoretisch formuliert ist, erfährt in Oberried eine praktische Umsetzung. Das ehrenamtliche Engagement wird durch die Aktivitäten der BGO angespornt.

Viele werden motiviert, in der Gemeinde ehrenamtlich einer sinnstiftenden Tätigkeit nachzugehen.

Dazu möchte ich zwei Beispiele anführen: Üblicherweise hat eine Tagespflege auch einen Fahrdienst mit – je nach Größe – ein bis zwei oder mehreren fest angestellten Fahrern, die die Gäste morgens zu Hause abholen und abends wieder zurückbringen. In Oberried können wir auf rund 20 ehrenamtliche Fahrer und Fahrerinnen zurückgreifen, die im Wechsel die Gäste transportieren und sich gemeinschaftlich und völlig eigenständig über eine WhatsApp-Gruppe unkompliziert, schnell und vor allem flexibel organisieren. Es gibt keine zentrale Steuerung, und das funktioniert seit drei Jahren reibungslos. Ist jemand verhindert, krank oder im Urlaub, dann wird das sofort von den anderen Ehrenamtlichen aufgefangen. Das zweite Beispiel ist die Essensversorgung der Tagespflege. Wir haben weder einen Caterer noch ein Großküche, sondern wir konnten die Wirtsleute vor Ort animieren, die Tagespflege zu beliefern. Glücklicherweise haben wir in unserer kleinen Gemeinde aufgrund des Tourismus und der Nähe zu Freiburg noch fast ein Dutzend Betriebe. Fünf davon haben sich bereit erklärt, einmal in der Woche die Tagespflege mit Mittagessen zu beliefern. So liefert das Essen montags das vom Michelin Guide und Gault&Millau ausgezeichnete Restaurant „Sternen Post“, und dienstags wird das Essen beispielsweise vom Hotel „Die Halde“ auf dem Schauinsland gebracht usw. Das gefällt den Leuten natürlich ungemein! Denn die Qualität des Essens ist eine ganz andere als aus einer Großküche. Die beiden Beispiele spiegeln die tiefe Verbundenheit in der Gemeinde wider. 

Besten Dank für das Gespräch.

Zusatzinformationen:

Sorgende Gemeinschaft Oberried auf YouTube: https://youtu.be/ZDhGrMItCB8

Statements zur sorgenden Gemeinschaft auf YouTube: https://youtu.be/L_nB4yh7uq0

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